"Peer Gynt" von Edward Clug

Abenteurer und Lügenbold

Das Ballett Zürich bringt „Peer Gynt“ in der Choreografie von Edward Clug auf die Bühne.

Das Publikum ist begeistert, nicht zuletzt vom mittanzenden weißen Hirsch. William Moore in der Titelrolle überzeugt einmal mehr als Peer.

Zürich, 22/05/2022

Edward Clug, Ballettchef des Slowenischen Nationaltheaters in Maribor, sammelt als Choreograf auch international Lorbeeren. Besonders stark vertreten ist er beim Ballett Zürich unter Christian Spuck. Hier konnte Clug gleich drei Uraufführungen kreieren: die Kurzstücke „Hill Harper’s Dream“ (2013) und „Chamber Minds“ (2015) sowie den Abendfüller „Faust“ (2018).

Das Ballett Zürich übernahm auch Clugs Fassung von „Sacre du Printemps“ (2012) und jetzt seinen „Peer Gynt“, entstanden 2015 in Maribor. Es ist das erste große Handlungsballett des 1973 geborenen Choreografen, der früher auch Solotänzer war, und wurde schon von mehreren Häusern wie der Wiener Staatsoper aufgeführt.

Ein Meisterwerk, wie sich jetzt bei der Premiere des Balletts Zürich zeigte. Und meisterhaft getanzt von den vielen Mitwirkenden, darunter dem Junior Ballet. Eine tolle Ensembleleistung. Man erlebt vitalen zeitgenössischen Tanz, hochathletisch, aber auch besinnlich oder versponnen. Folkloristische Elemente fehlen nicht, Komik erst recht nicht. Die Einfälle sprudeln nur so.

Der vielseitige, tänzerisch wie schauspielerisch mitreißende William Moore in der Titelrolle ist fast pausenlos auf der Bühne: als frecher, lügenhafter und verwöhnter Sohn von Mutter Ase (Francesca Dell’Aria), als Verführer der Braut eines anderen (Michelle Willems), als eine Art Verwechslungsopfer der Trollfrau „Die Grüne“ (Inna Bilash), als leidenschaftlicher, aber untreuer Freund seiner Jugendliebe Solveig (Katja Wünsche).

Soweit der Inhalt von Teil eins des „Peer Gynt“-Balletts. Es hält sich ziemlich genau an die literarische Vorlage, das gleichnamige Versdrama des norwegischen Dichters Henrik Ibsen (1895). Es wäre vermessen zu erwarten, das Ballettpublikum würde diesen ausufernden Text genauer kennen. So bleibt man denn auf die ausführlichen Inhaltsangaben im Programmheft angewiesen. Oder man lässt das bunte und oft groteske Geschehen auf der Bühne einfach auf sich einwirken.

Teil zwei des Abends spielt Jahre später in Nordafrika. Peer ist als Sklavenhändler reich geworden, wie man von Ibsen her weiß. Er verliebt sich in die Wüstentochter Anitra (Rafaelle Queiroz), wird von ihr aber versetzt und von ihrem Beduinen-Clan ausgeraubt. Nun geht es immer mehr bergab. Peer will Kaiser werden, landet stattdessen im Tollhaus von Kairo mit dem dubiosen Arzt Prof. Begriffenfeldt (Dominik Slavkowsky), wo die Geisteskranken ihm symbolisch die Krone aufdrücken. Es folgt die von allerlei Gebrechen, von Altersmüdigkeit und Unglücksfällen begleitete Heimkehr nach Norwegen. Dort spielen sich in Peers Erinnerung schemenhaft nochmals die Erlebnisse seiner Jugend ab. Solveig, bei Clug immer noch eine schöne Frau, hat bei alledem auf ihn gewartet. Sie nimmt ihn in ihre Hütte auf, die sie gleich zum ersten Treffen auf dem Rücken mitschleppt, und begleitet ihn in den Tod.

Diesen zweiten Teil in Nordafrika und auf der Rückkehr in die norwegische Bergwelt hat Clug sehr gerafft choreografiert, manchmal beinahe abgewickelt. In Erinnerung bleiben ein Verwirrspiel mit kostbaren Teppichen bei den Beduinen, groteske Massenszenen im Irrenhaus oder ein Pas de Deux mit der schönen betrügerischen Anitra. Eine Szene, die man gern ausführlicher erlebt hätte.

Die beeindruckende musikalische Leitung des Zürcher Philharmonia-Orchesters hat Victorien Vanoosten. Verführerische Klänge aus Edvard Griegs Schauspielmusik zu Ibsens „Peer Gynt“ steigen aus dem Orchestergraben. Aber nicht nur die. Denn sie deckt längst nicht alle Facetten der Geschichte beziehungsweise des Balletts ab. So wurden weitere Grieg-Werke eingebaut: Ausschnitte aus seinem Streichquartett Nr.1, der Holberg-Suite, den Lyrischen Stücken für Piano und zwei Sätzen seines Klavierkonzerts (Adrian Oetiker).

Hier drängt sich ein Vergleich mit der Musikauswahl anderer wichtiger „Peer-Gynt“-Choreografen auf: Heinz Spoerli in Zürich (2007) und Johan Inger in Basel (2017). Beide setzten ebenfalls auf ein erweitertes Grieg-Fundament, ergänzten es aber mit Musikauszügen anderer Komponisten. Inger wählte Tschaikowski und Bizet, Spoerli zwei modernere Komponisten: Brett Dean und Mark-Anthony Turnage. John Neumeier in Hamburg, der erste große „Peer-Gynt“-Interpret, verzichtete in seinen beiden Fassungen (1989/ 2015) ganz auf Grieg: Er choreografierte zu einer Auftragsmusik von Alfred Schnittke.

In Zürich konnte man das Maribor-Bühnenbild von Marko Japelj übernehmen: Eine ovale Ringstraße, die dafür sorgt, dass sich eine Szene flüssig an die andere fügt. Daneben ein massiver Kletterfelsen. Auch die Kostüme von Leo Kulas wurden kopiert – sie sind teils so ausgefallen fantastisch wie die Choreografie. Die Trolle wirken wie aus Lehm geknetet. „Die Grüne“ trägt einen Body aus Moos und bodenlange Haare aus Lianen oder einem ähnlichen Gewächs. Sie hat zwei Gesichter, vorn und hinten, und präsentiert rückwärts einen irgendwie zustande gekommenen schwangeren Bauch.

„Peer, du lügst“, ruft seine Mutter Ase gleich im ersten Satz von Ibsens Versdrama. Peer, der eine Woche unabgemeldet in den Bergen verschwunden war, hatte prahlerisch geschildert, wie er sich auf den Rücken eines weißen Hirschbocks geschwungen und mit ihm über den Grat geritten sei. Das war Fake. In Clugs Ballett sieht man konkret, wie der Hirsch den Peer immer wieder abwirft.

Eine trippelnde Todesgestalt (Daniel Mulligan) begleitet Peer von Anfang an, moralisiert, rettet ihn aber auch vor viel Ungemach. Eine weitere, ungemein eindrückliche Figur ist der weiße Hirschbock (Cohen Aitchison-Dugas), den Clug erfunden hat. Eine mythische Erscheinung aus dem Norden, die auch in Nordafrika auftaucht, ein Beobachter, Spötter, aber auch Warner und Helfer des Peer. Die Arme des Hirsch-Tänzers sind mit Stelzen zu Vorderbeinen verlängert, über dem Tiergesicht trägt er ein stattliches Geweih. Am Ende, wenn Peer fürs Publikum unsichtbar in Solveigs Haus stirbt, stellt der Hirsch-Tänzer seine Krücken ab und hängt das Geweih über die Tür. Ein wunderbarer Einfall, dieser Hirsch in Edward Clugs „Peer Gynt“. Wie so viele andere Einfälle auch. 

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