Die Schule verfügt über eine hauseigene kleine Bühne, auf der auch die Vorstellungen anlässlich des 95. Geburtstages stattfanden

„Man muss über die Technik hinauswachsen“

Die Lola Rogge Schule in Hamburg feierte ihren 95. Geburtstag

„Wo das Wissen um die Dinge aufhört, wo nur das Erlebnis Gesetz ist, dort beginnt der Tanz.“ Dieser Satz von Mary Wigman wurde zum Leitmotiv von Christiane Meyer-Rogge-Turner, die seit 1977 die Schule leitet.

Hamburg, 18/09/2022

Wenn uns die Corona-Krise eines gelehrt hat, dann dies: Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Nichts aufschieben. Warum also nicht den 95. Geburtstag einer Hamburger Tanz-Institution heute schon feiern, und nicht auf den Hundertsten warten – wer weiß, ob der dann überhaupt noch gefeiert werden kann? Das sagte sich auch Christiane Meyer-Rogge-Turner, als sich das 95. Schuljubiläum näherte. Ihre Mutter, Lola Rogge, Schülerin von Rudolf von Laban, hatte die bekannte Hamburger Tanzschule 1927 gegründet und durch die schwierige Zeit der Nazi-Herrschaft gerettet. Ihre Tochter Christiane, selbst dort zur Tanzpädagogin ausgebildet, übernahm die Schule 1977 und führte sie seither durch alle Höhen und Tiefen der Zeitläufte. Die Feier am 10. September 2022 war auch ein Fest der Freude nach zwei lähmenden Jahren des durch die Corona-Krise begründeten weitgehenden Stillstands, der Unsicherheit, der bangen Frage: Wie geht es weiter? tanznetz-Korrespondentin Annette Bopp sprach mit der Schulleiterin, die in diesem Jahr 78 Jahre alt wird und seit 2014 ein Leitungsteam an ihrer Seite hat, über die Zukunftsperspektiven dieser Hamburger Tanz-Institution.

 

Wie haben Sie die Corona-Zeit durchlebt?

Ganz ehrlich: Ich habe befürchtet, dass die Schule eingeht. Wenn wir noch länger keinen Unterricht hätten geben können, wäre es auch so gekommen. Unser Glück im Unglück war, dass wir als Berufsfachschule den Laienunterricht nach zwei Monaten absoluten Stillstands wieder öffnen durften, natürlich unter Einhaltung der vorgeschriebenen Abstände. Dass wir das tun konnten, war unsere Rettung. Dadurch konnten wir die noch vor uns liegende Durststrecke überbrücken und haben den Laienunterricht auch immer wieder online erteilt. Aber es geht natürlich nichts über die persönliche Begegnung, auch wenn sie mit Abstand erfolgt.

Erhielten Sie staatliche Unterstützung?

Wir bekamen 5.000 Euro, das war nicht viel, aber besser als nichts.

Was bedeutet der Status als Berufsfachschule heute konkret?

Die Konstruktion, eine Laienschule mit einem Ausbildungsunterricht zu verbinden, beruht auf der Überzeugung von meiner Mutter und mir, dass die Berufsausbildung mit der Praxis im Laienunterricht verbunden sein soll. Ich habe seinerzeit bei der Behörde durchgesetzt, dass das Praktikum bei uns als Schulfach anerkannt wird. Das war mir sehr wichtig. Die jungen Berufsausbildungs-Schüler*innen leisten viel, wenn sie bis in die Abendstunden erleben und mittragen, wie Laien vom Kleinkind bis zum Erwachsenen tanzen lernen und trainieren.

Wie geht es mit der Schule weiter?

Ich hoffe, dass wir sie als gemeinnützige GmbH etablieren können. Wir müssen ihren Bestand ja für die Zukunft sichern. Und ohne Gemeinnützigkeit werden wir das nicht schaffen. Das ist das eine. Das andere ist, dass wir uns um Stipendien kümmern müssen. Das Stadium, in dem wir jetzt sind, empfinde ich als die absolute Blüte dessen, was wir einmal aufgebaut haben.

Inwiefern?

Wir haben Lehrer*innen, die sowohl von meiner Kollegin Gerburg Ohde in Jazztanz, Folklore und Methodik unterrichtet wurden, als auch von mir in freiem Tanz, Improvisation und Choreologie, also „Laban Studies“. Auf dieser Basis haben unsere jetzigen Dozent*innen in anderen Institutionen weiter studiert und kamen dann zurück. Sie hatten das Fundament von uns und haben dann noch etwas draufgesetzt, jede*r auf ihre/seine Weise. Viele von ihnen sind aber heute über 50, einige sogar schon 65. Es steht uns in Kürze ein Generationswechsel ins Haus. Die Blütezeit unserer jetzigen Ausbildungskonstruktion neigt sich dem Ende zu.

Was bedeutet das?

Heute brauche ich nur ein Stichwort zu sagen wie „Verschraubung“ oder „Druck und Zug“, und jede*r Dozent*in weiß, was gemeint ist. Das waren und sind Themen, die man individuell bearbeiten kann und die trotzdem eine Richtlinie geben. Das wird auf Dauer nicht mehr gehen. Wenn die älteren Lehrer*innen ausscheiden, werden wir neue anwerben müssen, die nicht mehr auf diesem Fundament stehen. Das kann man bedauern, aber es ist der Lauf der Zeit. Wir werden zukünftig sehr viel stärker diversifizieren müssen, um der jungen Generation gerecht zu werden und der Vielfalt Rechnung zu tragen, die heute auf uns einstürmt, auch strukturell, mit mehr modularem Workshop-Unterricht und Event-Art.

Hatten Sie auch mal daran gedacht, einen Bachelor-Abschluss zu etablieren?

Ja, das wollten wir schon vor fünf Jahren, nachdem wir in Einzelfällen schon B.A.-Anerkennungen unserer Absolvent*innen erreicht hatten. Wir hatten dazu auch viel Zuspruch und Unterstützung erhalten. Aber beide Universitäten, die für die Zusammenarbeit in Frage kamen, zogen am Ende nicht mit, weder die Hamburger Hochschule für Musik und darstellende Kunst noch die Lüneburger Leuphana Universität.

Unsere Berufsausbildung ist so klar und rund in sich, dass es schwierig ist, sie mit der Uni zu verbinden. So erkläre ich es mir. Wenn man gewollt hätte, wäre es aber schon möglich gewesen, die Module dazu hatten wir bereits eingerichtet. Aber es wurde halt nichts. In der Corona-Zeit war ich sogar froh, dass es nicht dazu gekommen ist, denn wie hätten wir mit den Universitäten zurechtkommen sollen, in denen alles online lief? So konnte ich die Zügel in die Hand nehmen und das Schiff durch die Klippen lenken. Aber wir sollten den B.A.-Faden jetzt schon wieder aufnehmen. Wenn wir offenere Organisationsformen haben, lässt sich das auch besser verknüpfen.

Welche Organisationsformen wären das?

Vor allem die modularen, damit man auch mit den Universitäten in Austausch gehen kann. Wir müssen da zu einer intensiveren Zusammenarbeit kommen. Und die finanziellen Probleme überwinden. Die sind ja immer da, gerade an den Hochschulen, und ganz besonders in den künstlerischen Fächern. Vielleicht wird es leichter, wenn wir die Gemeinnützigkeit haben und ein paar vernünftige Sponsoren.

Wie wäre es mit einer Stiftung?

Bloß nicht! Ich weiß, was es heißt, eine Stiftung einzurichten, ich habe eine mitgegründet ... Die kann man ja nie wieder auflösen, das ist eine Riesenverantwortung. Und Vereine bergen halt immer die Gefahr der Vereinsmeierei, deshalb fände ich eine gemeinnützige GmbH besser, an der sich womöglich auch Lehrer*innen beteiligen können im Sinne eines offenen Konstrukts. Im Moment habe ich das Gefühl, das wäre der richtige Weg. Das Fundament, das wir bieten, ist nach wie vor sehr gut, aber für die Zukunft müssen wir es nochmal anders greifen.

Wenn Sie zurückschauen: Wie hat sich der Tanz entwickelt aus Ihrer Sicht, auch an der Schule?

Das ist eine vielschichtige Frage ... Nehmen wir das Beispiel „Contemporary Dance“. Damit verbinden die Leute heute ganz bestimmte Moves. Und wenn diese Moves nicht vorkommen, meinen sie, wir machen kein „Contemporary“. Bei uns entwickelt sich das aber nur anders, und erst in der letzten Ausbildungsklasse kommt alles zusammen. Da wird „Contemporary“ lebendig. Aber künftig muss man mit diesen „Moves“ sofort anfangen, sonst kommen die Leute nicht. Ähnlich verhält es sich mit Hip-Hop. Wir unterrichten erst einmal die Jazz-Grundlagen, weil sie auch für den Hip-Hop nutzbar sind. Aber dann denkt man, wir zäumen das Pferd von hinten auf ... Da werden wir Mittel und Wege finden müssen, wie wir das begreiflich machen. Insofern hat sich da schon jetzt vieles verändert.

Haben sich auch die Auszubildenden verändert?

Ja, natürlich. Sie organisieren sich viel selbstständiger heute, und kaum verlassen sie die Schule, haben sie sofort das Handy in der Hand. Mir fällt auch auf, dass der Bildungsstand nicht mehr vergleichbar ist. Es wird viel weniger gelesen. Das ist eine ganz andere Generation. Ich unterrichte eine ganze Reihe von Lehrer*innen, die zu mir in die Improvisationskurse kommen. Und sie erzählen mir, dass man Beethoven im Musikunterricht heute nicht mehr anbieten kann. Die Curricula sehen das auch gar nicht mehr vor. Man kann die jungen Menschen heute vorwiegend in der Pop-Kultur abholen. Wenn man es vernünftig macht, kann man ja auch darüber die Musik verstehen. Das Defizit in der Bildung ist allerdings schon sehr groß aus meiner Sicht. Wenn man beispielsweise Bezüge zum Trojanischen Krieg oder der Figur der Kassandra herstellen möchte, wird man enttäuscht. Aber diese Art Bildung ist heute nicht mehr so wesentlich.

Die größere Vielfalt hat aber ja doch auch etwas Positives ...

Ja, ganz sicher! Wir sind heute generell internationaler geworden als früher. Das ist positiv! Wir brauchen die Öffnung für andere Arten von Musik, von Kultur generell.

Fällt es den jungen Menschen heute schwerer als früher, aus sich herauszukommen?

Einigen schon, ja. Ich habe gerade eine Improvisation gegeben zum Thema „Fassung und Fixierung“. Die Hände sollten das Gesicht verdecken und ein Trauertanz improvisatorisch entwickelt werden. Das war sehr berührend. Ich wusste nicht, dass so viel Trauer in diesen jungen Menschen steckt ... Sie mussten, um sie zu zeigen, dafür das Gesicht erst einmal verdecken. Als ich sagte, sie könnten die Hände nun auf verschiedene Art lösen und vorübergehend in die Fixierung zurückfinden, war das nur sehr zögerlich und auch nicht allen möglich.

Die Improvisation spielt für Sie eine zentrale Rolle, oder?

Ja, die ist mir wichtig. Man muss über die Technik hinauswachsen. Das ist ein weiter Weg, und die Improvisation ist dafür zentral bedeutsam. Früher wurde das eher belächelt, heute steht es überall auf den Stundenplänen und Workshops. Das ist prima. Aber die meisten sind damit komplett überfordert, sie brauchen die vorgegebene Form. Ich fürchte, es ist nur eine relativ kleine „Gemeinde“, die die Improvisation wirklich pflegt. Darum werden wir uns hier in der Schule weiterhin bemühen.

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