Stravinsky-Rave unter der Rheinbrücke
Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero choreografieren “Le Sacre” in Mainz
Weit mehr als 100 Jahre nach der skandalträchtigen Pariser Uraufführung gilt „Le Sacre du Printemps“ als eine der größten Herausforderungen, der sich Choreograf*innen stellen können. Einen kleinen Schönheitsfehler hat das Stück allerdings: Stravinskys Komposition dauert nur eine gute halbe Stunde. Und so steht Programmplanung unter der schwierigen Frage: Was kommt davor? Welches andere Stück, welche Musik kann neben diesem Schwergewicht bestehen? Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero, denen der Mainzer Tanzchef Honne Dohrmann (nach erfolgreicher Zusammenarbeit seit vielen Jahren) in dieser Spielzeit die große Tanzpremiere mit Orchester anvertraut hat, haben sozusagen die Flucht nach vorn angetreten. Ihr „Le Sacre“ dauert 75 Minuten und wird eröffnet mit kontrastierenden musikalischen Schwergewichten: Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre, dem „Cantus in Memoriam of Benjamin Britten“ von Arvo Pärt und Beethovens Ouvertüre zu „Coriolan“.
Der Mainzer Generalmusikdirektor Hermann Bäumer krempelte buchstäblich die Ärmel hoch, um dem Orchester des Staatstheaters viele starke Facetten zu entlocken – von sphärischen Klängen bei Pärt bis zur geballten Wucht von Stravinskys Komposition – die noch heute als Geburtsstunde der musikalischen Moderne gilt. Von einem entsprechend weitreichenden Zündfunken in der zeitgenössischen Kulturgeschichte haben sich Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero bei der ungewohnt aufwendigen szenischen Gestaltung leiten lassen: Sie nehmen Bezug auf die legendären New Yorker „Club Kids“ der 80er Jahre. In dieser schillernden Szene, in der exzentrische Kostümierung und ausgeklügelte Selbstinszenierung Trumpf waren, wurde viel von der aktuellen Diskussion über fluide Gender-Grenzen und Diversität vorweggenommen. Der Corona-bedingte lange Probenprozess für dieses Stück erlaubte es dem zwanzigköpfigen Mainzer Ensemble, tief in die Wurzeln heutiger Clubkultur einzutauchen. So entwickelten die Tänzer*innen in Zusammenarbeit mit Stefanie Krimmel aufwendigste individuelle Kostüme, die sich bei allen denkbaren Versatzstücken aus der reichhaltigen Kunst-, Kostüm- und Modegeschichte bedienen durften – Hauptsache, der Look geriet authentisch und schrill zugleich.
Eingangs flanieren die Kreaturen der Nacht über die von Jan Bernard Koeman entworfene bühnenbeherrschende Brücke – in Strass, Samt, Glitzer, Tüll, Overknees, High Heels, Federn, Kettenhemd, Corsagen, Uniformteilen, mit wahnwitzigen Perücken und dick aufgetragener Maske. Es ist eine fremdartige Community, die da langsam ihre gemeinsamen Spielregeln erfindet – Hauptsache, schön verrückt mit viel Toleranz für alle Eigenheiten. Die Bühne wird zum Catwalk, auf dem die Models hüftschwingend und posierend die verwegenen Persönlichkeitskreationen zu Markte tragen. Freilich – zum Tanzen, zu ungehinderter Bewegung taugen diese Verkleidungen eher nicht. Doch bevor die ersten „Sacre“-Töne anklingen, werden die hemmenden Schichten nach und nach abgelegt, wird ein bisschen Schminke abgewischt. Übrig bleibt eine Mixtur aus sexy Dessous und Partylook, in denen die Tänzer*innen sich in Stravinsky-Ekstase tanzen – die einer Rave-Party in nichts nachsteht.
Hier hat das Choreografen-Duo alle Tanz-Register gezogen, die selbst das Publikum in Trance versetzen können: furiose Ensembleszenen, aus denen immer wieder einzelne Tänzer*innen mit maßgenschneiderten solistischen Einlagen ausbrechen, mit atemloser Energie bis zum unausweichlichen Höhepunkt.
Aber halt, war da nicht noch die Sache mit dem Opfer?
Bei Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero fällt am Ende nicht einer, sondern die ganze Truppe wie hingemäht zu Boden – um im nächsten Augenblick in paarweiser Umarmung aufzuerstehen: ein Wow-Effekt nach Maß, vom Publikum bejubelt.
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