„Intimacy“ von Juliette Villemin 

Schutz vor angepasster Vollkommenheit

„Intimacy“ – Tanztheater von Juliette Villemin und Team in Kooperation mit TARTproduktion am Theaterhaus in Stuttgart

Ein Fluchtraum für Nähe, der am Ende zerstört wird

Stuttgart, 10/10/2022

Es beginnt ganz still auf der Bühne des intimeren Saales T3 im Stuttgarter Theaterhaus.
Die Bühne ist leer. Ein weißer Raum ist zwischen den schwarzen Begrenzungen erkennbar, ein Kubus wie sich zeigen wird, der sich bewegen lässt, mit einer Tür, ein Fluchtraum, ein Versteck, dann auch ein Raum der Begegnung als assoziatives Abbild jener inneren Räume, um die es im weiteren Verlauf dieser hoch konzentrierten, tänzerischen Performance gehen wird.
Auch ein Schlagzeug steht auf der Bühne für folgende Sounds, mitunter ganz intim, dann aber aufsteigend zu gewaltigem Crescendo. Da bedeuten dann schon mal die drei Performerinnen und der Performer in dieser Gruppe zwischen 14 und 63 Jahren, dass da akustische Grenzen überschritten werden und der gemeinsamen Suche nach den Räumen des Schutzes zum Erkunden der persönlichen Nähe, bis hin eben zu jenen, die schon mal in Bereiche der Intimität führen, so nicht angemessen sind. Und der Musiker bringt sich ein, er fügt sich, auch performativ in diese Gruppe der Suchenden, für die am Ende wirklich die Wege auch so etwas wie ihre Ziele geworden sind.
Aber zunächst diese Stille. Eine suchende Darstellerin. Zarte Bewegungen, als ertaste sie die Lust, die sie umgibt, um dann mutiger zu werden beim Umgang mit Raum und Licht, mit Klang und Stille, die sie umgeben und indem sie an Sicherheit der Bewegung gewinnt zu einer Art wiedergebender Spiegelungen dessen zu werden, was sie in diese Szene an leisen Energien einbringt.
Dann kommen mit den anderen Darstellenden weitere Körpergesten hinzu, Wahrnehmungen, sie sehen sich, sie kommen sich näher und bewegen sich in der Dynamik aus Nähe und Abstand. Und dann, wenn das eigene Ertasten von Raum und Umgebung, die eigene Wahrnehmung dessen, was andere bewegt, wo Schnittpunkte geben könnte, aber auch diametrale Abgrenzungen, kommt es zu ersten Begegnungen in körperlicher Nähe. Fast intim, oder auch zu intim, Abgrenzungen werden jeweils akzeptiert, was wiederum die Grenzen der annähernden Möglichkeiten erweitert, denn dann umhüllt auch Vertrauen die Suchenden. Sie sind auf der Suche nach sich selbst, um somit auch immer wieder Signale der Suche nach Anderen aussenden zu können.
Und dann gesellen sich Momente leisen Humors dazu. Das beginnt mit den Berührungen an den Füßen, an den Zehen, wer gibt welchen Impuls vor, wer übernimmt, wer erweitert und die Spannung steigt, wenn man sich der Empfindung nicht erwehren kann, dass bei diesen kribbelnden Spielen der Füße auch erste erotische Signale ausgesendet und empfangen werden. Und schon – im wahrsten und im übertragenen Sinne, bekommt das alles Hand und Fuß.
Und dann doch wieder Einsamkeit. Sind die anderen geflüchtet in diesen weißen großen Kubus? Grenzen sie sich ab, oder haben ihre Formen der Nähe ein Maß erreicht, das den Zusehenden verborgen bleiben soll.
Immer wieder lassen optische oder dann auch verbale Rätsel die Spannung ansteigen.
Jetzt die einsame Darstellerin – wollen es die Anderen, die Verborgenen nicht – oder nicht mehr – hören? Sie kämpft mit Erinnerungen. Was war da zu Hause, warum saßen alle still und stumm am Tisch, während der Freund sie verließ, was war da geschehen? Eine Verletzung intimer Grenzen, ein Übergriff ? Die Fetzen der erinnernden und klagenden Worte provozieren Vermutungen.
Es gibt keine eindeutigen Antworten. Was für einen Menschen Nähe ist, in die Freiheit der Intimität führen kann, erweist sich für einen anderen als unangemessener Durchbruch der selbst zu bestimmenden Grenzen aus Nähe und Abstand.
Oder es gibt einen Fluchtpunkt, einen Raum des unbedingten Schutzes, der Kubus wird zerfetzt. Das macht Spaß. Das kracht, wenn die mit weißem Papier bespannten hohen Wände durchschlagen werden, die Geometrie ist hin, aber dafür erlebt man einen so sinnlichen wie mitreißenden Moment der Freiheit.
Das Anliegen der choreografischen Inszenierung dieses Tanztheaters von Juliette Villemin, mit dem Dramaturgen und Bühnenbilder Bernhard M. Eusterschulte, nicht zuletzt dank der so authentischen Kompanie mit Anika Bendel, Arika-Lilach Boris, Francisco Ladrón de Guevara, Margarethe Weckerle und dem performenden Schlagzeuger Hans Fickelscher, überzeugt und berührt.    

 

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