Tanzvermittlung meets Scrollytelling

Interview-Reihe zum Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO: Arnd Wesemann, Tanzjournalist

Arnd Wesemann hat dank der Unterstützung die Internetplattform tanz.dance gegründet, die dem Niedergang des Tanzjournalismus im Printbereich trotzt und digitale zeitgemäße Tanzvermittlung durch Scrollytelling möglich macht.

Berlin, 13/01/2022

Im vergangenen, von der Corona-Pandemie geplagten Theaterjahr unterstützte das Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO vom Dachverband Tanz Deutschland e. V. als Teil des HILFSPROGRAMMS TANZ / NEUSTART KULTUR soloselbständige Tanzschaffende. In einer Interviewreihe befragt tanznetz.de einige Künstler*innen, deren künstlerische Projekte im Rahmen dieses Programms gefördert wurden, zu ihren Erfahrungen mit DIS-TANZ-SOLO. Wie bewerten sie den Nutzen und die Nachhaltigkeit der Förderung? Und welchen Stellenwert nimmt diese für das künstlerische Schaffen in Zeiten der Pandemie ein?

Arnd, was war Deine Idee für DIS-TANZ-SOLO?

Das ebenso lustvolle wie anspruchsvolle Medium des Scrollytelling ermöglicht es im Internet, künstlerische Arbeiten im Tanz so darzustellen, dass es eine Leserschaft weit über die Szene hinaus anspricht. Tanzwerke können so in einen gesellschaftlich ansprechenden Kontext gestellt werden, der allgemein als relevant und lesenswert empfunden wird. Dazu gibt es neu diese verlagsfreie, von Journalist*innen selbst bestückte, zweisprachige Website: https://tanz.dance

Warum hast Du dieses Förderprogramm gewählt?

Es wurde gewählt, um herauszufinden, ob diese Website funktioniert, die am Bildschirm quasi auf der eigenen Fingerspitze die Kunst des Tanzens erleben lässt. Dazu war eine niederschwellige Antragsmöglichkeit nötig, die auch ohne Businessplan funktioniert: um erst einmal Erfahrungen mit der Leserschaft, den Autor*innen und den Kunstschaffenden zu sammeln.

Was hat die Förderung speziell in den hochpandemischen Zeiten für Dich bedeutet? Finanziell und inhaltlich?

Die Pandemie ist ein Auslöser. Es gibt schon lange eine Krise im Printbereich, die durch die Pandemie tsunamiartig verstärkt wurde. Man hat im Lockdown Zeit zum Nachdenken gehabt, stellte das Weiter-so in Frage und kommt so auf neue Lösungen. Inhaltlich ist eine Pandemie also eine feine Sache. Dass nun auch der Tanzjournalismus gefördert wurde, hat mich positiv überrascht. Um damit auch die finanzielle Sorge gut abzufedern.

War der Förderzeitraum ausreichend, um Dein Projekt abzuschließen bzw. zu wirklicher Vertiefung zu gelangen?

Dank der Solo-Förderung wurde die Neugründung von https://tanz.dance möglich, die nun ihrerseits eine Förderung dank „Tanzpakt Reconnect“ erhalten hat, um – hoffentlich – dieses Projekt nie abschließen zu müssen. Um es irgendwann auch ohne Förderung als ein innovatives, journalistisches Format auf dem Medienmarkt zu schaffen.

Stehen Antragsaufwand und Nutzen im richtigen Verhältnis?

Absolut.

Wie nachhaltig findest Du Dein Projekt? Kannst Du jetzt noch davon profitieren?

Ähnlich wie in der bildenden Kunst ein Ausstellungskatalog dazu dient, über den Augenschein während einer begrenzten Ausstellungsdauer ebenso hinauszuweisen wie über das Kunstwerk selbst, dient https://tanz.dance dazu, dank digitaler Vermittlung von Bewegung, weit über die Dokumentation hinaus nicht nur Tanzschaffenden, sondern auch dem Tanzjournalismus nach seinem Niedergang in der Presse ein neues, zeitgemäßes Forum zu bieten.

Würdest Du anderen Künstler*innen oder Tanzschaffenden eine Bewerbung bei dieser Förderung empfehlen?

Ich finde es wichtig, eine Idee zu haben und sie auch realisieren zu können. Dazu sind niederschwellige Töpfe wie „Dis-Tanz-Solo“ ideal. Man schildert eine Idee und zeigt, dass man an sie glaubt. Was will man noch? Bürokratie? Ich kann nur hoffen, dass man bei künftigen Förderungen von „Dis-Tanz-Solo“ wie von einem Modell lernt.

Was bedeutet der Begriff „Distanz“ – DIS-TANZ – für Dich?

Distanz ist eine Kunst, die Welt zu betrachten – aus Bühnenentfernung. Eine Tänzerin im Publikum sieht den Tanz anders als die Tänzerin, die gerade auf der Bühne steht. Distanz ist ein Outside Eye. Distanziert ist nicht zuletzt der Tanzjournalismus, um eben nicht den Daumen nur hoch- oder runter zu strecken, sondern ein bewegendes Bild von außen zu zeichnen und dieses Bild zu verknüpfen mit Assoziationen, Wissen und Erfahrung, die selber so klar und eindrücklich sind wie ein Kunstwerk auch.

Das versucht jetzt ein ganzes Dutzend meiner Kolleg*innen mit tanz.dance zu erreichen. Ein erstes Beispiel ist hier "In Sibirien" - Die Expedition des Choreografen Choy Ka Fai zu den Schamanen in Sibirien.

Schamanen stellt man sich gern tanzend in zotteligen Kostümen vor, als auserwählte Angehörige der Volksgruppen von Chakassen, Burjaten und Turwinern, die in den sibirischen Ausläufern des mongolischen Hochlands leben – zusammen mit einer Pflanze, die hier besonders gut gedeiht: der Steppenraute.
Sie enthält den Wirkstoff Harmin, von dem seit den schriftstellerischen Großtaten der 1960er Jahre, von Mircea Eliade bis Carlos Castaneda, die ganze Welt überzeugt ist, dass natürliche Drogen und federgeschmückte Schamanentänze in unberührter Natur zu festen Bestandteilen dieser legendären Urreligion gehören.

Längst reisen im Sommer Russen und Chinesen in ganzen Busladungen nach Sibrien, um die Tänze der Schamanen zu sehen – und treffen immer öfter auch auf Neo-Schamanen, einer eher im urbanen Raum entstehenden Spezies, die dem Tanz besondere Heilkräfte andichtet – nebst vielen anderen, über die Jahrhunderte überlieferten Methoden, die eine besondere Einheit mit dem Geistern, Vorfahren und nicht zuletzt mit der Natur beschwören sollen.

Der in Berlin lebende Choreograf Choy Ka Fai, der letzten Sommer beim Berliner Festival „Tanz im August“ eine Ausstellung seiner Fundstücke und Erkenntnisse zu den Schamanen zeigte, in „CosmicWander: Expedition“, erzählt nun in einem neuen digitalen Format – Scrollytelling genannt – seine Begegnungen mit den Schamanen rings um den Baikalsee.

Auf einer Insel im See, am sogenannten Schamanenfelsen, treffen sich Schamanen aus fast allen sibirischen Provinzen, um sich auszutauschen, Meinungsverschiedenheiten auszuräumen und neue Bande zu knüpfen. Hier wird auch getanzt – und ja, es gibt tatsächlich Choreografien, die in Trance führen.
Choy Ka Fai interessiert dieses Moment des Überschreitens, der Übergang in einen anderen Zustand, der in gleichem Maße auch für die Kunst und noch mehr für das Gaming und die virtuellen Welten gilt. Das ist sein Metier, als Künstler und als Choreograf. Er sieht sich dabei bestätigt durch die aktuelle Mode, die Schamanismus und digitale Medien zusammen denkt und eine Welle auslöst, die friedliebende Öko-Fans und eine digitale Weltflucht vor der Realität der Großstädten zusammen schweißt.

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