"Bill" von Sharon Eyal.

"Bill" von Sharon Eyal.

Die Post geht ab

„bpm“ - Beats pro Minute - liefert einen rasanten Abend im Nationaltheater an der Moldau in Prag

Uraufführungen von Eyal Dadon und Yemi A. D. begeistern das Publikum. Und zum ersten Mal in Prag zu sehen: „Bill“ von Sharon Eyal und Gai Behar.

Prag, 07/04/2022

Toller Anblick, tolle Stimmung, schon beim Betreten des ehrwürdigen Prager Nationaltheaters an der Moldau. Das Publikum ist erstaunlich jung. Ob der Titel lockt? Oder doch eher der hier bestens bekannte Performance- und Streetartkünstler Yemi A. D., Prager mit Nigerianischen Wurzeln, der hier zum ersten Mal mit einer der bestens aufgestellten Ballettkompanien arbeitet, deren Kunst ja doch weitestgehend vornehmlich im Zusammenhang mit dem klassischen und neoklassischen Repertoire gesehen wird.

Was aber auch bei genauerem Hinsehen gar nicht auffällt. Natürlich, und dass ist für den künstlerischen Direktor, Filip Barnkiewicz, nicht aufzugeben: Die klassischen Grundlagen sind das Fundament. Aber wie weit der Tanz auf diesem Fundament gehen kann, wie hoch er abheben kann, das haben die Prager immer wieder erfolgreich gezeigt. Zudem komme es, so Barankiewicz, auf den kreativen Dialog an. Vor wenigen Wochen erst tobte das Publikum vor Begeisterung nach der Premiere von John Crankos Choreografie „Romeo und Julia“. Und jetzt, dieselben Tänzerinnen und Tänzer, auf für sie bislang unbekanntem Gebiet.

Der Titel, „bpm“ - Beats pro Minute - bezieht sich zunächst rein akustisch auf den menschlichen Herzschlag. Wir hören das Pochen, wir nehmen es wahr und in uns auf. Dann wandelt sich der Klang des Herzens zu einer rhythmischen, sich immer wieder steigernden Abfolge von Sounds, in denen sich traditionelle Klänge eines Gesanges indischer Herkunft mit denen verblüffender elektronischer Varianten mischen.

„Artza“ heißt die erste Choreografie des dreiteiligen Abends – ein Befehl aus dem Hebräischen. Er gilt einem Tier, einem Hund, vergleichbar im Deutschen mit „Sitz!“, „Bleib stehen“, „Los!“. Im menschlichen Umgang ist dieser Begriff nicht gebräuchlich. Aber unter dem Label „ARTZA“ kann man online auch eine köstliche Auswahl von Spezialitäten aus dem Heiligen Land bestellen, das dazu gelieferte Brot soll so schmecken wie jenes, das einst der Heiland mit den Seinen teilte.

Aber dies ist wohl nicht gemeint in Eyal Dadons Prager Uraufführung. Es ist dieser Befehl an das Tier, mit dem sich der Choreograf aus Israel, dessen tänzerische und künstlerische Traditionen in der Kibbuz Contemporary Dance Company begannen, bevor er in Israel 2016 die eigene SOL Dance Company gründete.

In Prag macht er sich mit zehn Tänzerinnen und Tänzern, immer wieder von Schattenfiguren begleitet, gespiegelt, mitunter auch verunsichert, auf die Suche nach jenem Tier, dessen Stillstand zu befehlen ist. Der Schlag des Herzens gibt die beste Grundlage für jene Auseinandersetzung mit dem Tier im Menschen. Das kann ganz direkt sichtbar werden, wenn ein Tänzer eine Wolfsmaske trägt, wenn darunter das Gesicht des Menschen erscheint, aber auch, wenn der Wolf so direkt gar nicht erkennbar ist, was die rasante Doppelbödigkeit dieser so faszinierenden wie aber auch verstörenden und beunruhigenden Kreation ausmacht. Immer wieder aber blitzt etwas auf von der Kraft, sich den tierischen Verführungen zu widersetzten, und so wird von den Prager Tänzerinnen und Tänzern bei vollem Einsatz auch dagegen angetanzt. Und das kommt an beim Publikum. Gut 20 Minuten dauert dieser tänzerische Widerstand gegen innere und äußere Bedrohungen sowohl individueller als auch kollektiver Existenz. Dann brandet die Zustimmung des begeisterten Publikums auf, gefühlt noch einmal gut 20 Minuten, wo sollte man sich sonst so dem Gefühl hingeben, als beim Tanz.

Somit ist die Stimmung im Prager Nationaltheater auf einem guten Level. Da nimmt man es mit Humor und freundlichem Applaus, wenn bei der zweiten Uraufführung mit dem letztlich so ironischen wie mehrdeutigen Titel „Bohemian Gravity“ von Yemy A.D. der Vorhang sich nach wenigen Minuten wieder schließt. Schade, denn gerade erlebte man so bezaubernde wie berührende Bilder aufsteigender Zuneigung und Zärtlichkeit, wenn die Tänzerinnen ihre männlichen Kollegen wie Babys im Schoß liebkosen. Ist ja schon rein optisch ein wunderbarer Witz, der die Neugier anreizt.

Die Technik will noch nicht voll dabei sein. Die von Eliška SKY entworfenen kosmischen Kreise können noch nicht in voller Kraft ihrer Lichtvarianten, zu den von Jan Sikl orchestrierten Sounds von NobodyListen, unsere Fantasie dermaßen beflügeln, dass sich die Weiten des Alls zum Rhythmus der Herzen zu öffnen vermögen. Aber wenn dann alle Sterne funkeln, die Planeten sich ihren Bahnen wegen, sich der Vorhang öffnet und den Blick in ein fantastisches Universum frei gibt, dann ist das technische Versehen vergessen.

Diese Kreation ist vor allem eine optische Überraschung, es ist eine Choreografie anregender Bildsprache, weniger des individuellen Tanzes. Dazu muss man wissen, dass der Prager Yemi A. D. - auch in der Tradition seiner nigerianischen Wurzeln - sich vor allem als verformender Streetdancer einen Namen gemacht hat, dass er auch mit seinen Elementen der Show-Kunst gegen jede Art von Schwerkraft - auch die der böhmischen Traditionen - die abhebenden Visionen der Bewegung und des Tanzes stellt. Hier, ab ins All! Er begibt sich mit seiner allersten choreografischen Arbeit auf die Suche nach der unbedingten Freiheit, daher der Untertitel „Searching for Freedom“.

Und diese Ausflüge in die Freiheiten gehen weit, man kann sie schon auch als kosmische Visionen sehen. Denn diese Männerbabys werden erwachsen, sind ihren „Müttern“ gleich, und dann geht es immer wieder in beeindruckenden Bildern um diese Gleichheit in der Vision des Tanzes. Jede Frau ein König, jeder Mann eine Königin, alles im Wechsel, alles aber auch in der Weite längst noch nicht erkundeter Varianten und Möglichkeiten menschlicher Existenz. Mitunter wird herrlich geblinzelt, alle anders, alle gleich, alle in weiten Gewändern, und dann ganz offensichtlich, viel nackte Haut. Und das bewegt, dieser wunderbare Dialog zwischen verhüllter Offenheit und explosiver Revolte des Körpers.

Vor allem ist es so wunderbar zu erleben, wie hier die 16 Tänzerinnen und Tänzer es vermögen, sich voll einzulassen auf diesen Tanz durch den Kosmos der Existenzen und somit allein durch ihr künstlerisches Können vor allem die Assoziationen empfindsamer Weite einbringen, die dann weit über die einer optischen Idee hinausgehen. Und somit dürfte immerhin für Augenblicke auch die böhmische Schwerkraft überwindbar sein, Kraft der Höhenflüge des Tanzes.

Und der hebt ab im dritten Teil des Abends, erstmals in Prag, endlich möchte man sagen, angesichts des enormen Könnens der Kompanie. Hier 20 Tänzerinnen und Tänzer: „Bill“ von Sharon Eyal und Gai Behar, auch verantwortlich für die Kostüme, die in ihrer ästhetischen Gleichheit den Tanz in die Eruption der Gruppendynamik führen bei zugleich schützender Raumdimension der individuellen Persönlichkeit. Und wieder pocht das Herz, die Techno-Sounds von Ori Lichtik und Ören Barzilay geben die Beats vor. Dass diese Kreation nun schon vor 12 Jahren für die Batsheva Dance Company in Israel entstand, merkt man der Prager Erstaufführung nicht an. Es mag absurd klingen, aber diese Einheitlichkeit der für alle Tänzerinnen und Tänzer gleichfarbigen, enganliegenden, und somit jedes Spiel der Muskeln sichtbar machenden Ganzkörpertrikots, ist für jede Kompanie eben die Herausforderung, dennoch die Kraft der Individualität nicht verschwimmen zu lassen.

Immer wieder sprengen Abfolgen der Bewegungen die Körper, immer wieder bricht die Dynamik der Gruppe weit auf, um dann aber immer wieder beim Wechseln der Gruppen den Raum für die Kraft der einzelnen Tänzerinnen und Tänzer, auch wenn sie mitunter schwer zu unterscheiden sind, frei zu geben. Und somit bricht hier noch einmal die ganze Faszination des Tanzes als Erkundung der Grenzen des Ausdrucks und vor allem der individuellen Präsenz, in der mitunter provozierenden und gleich darauf auch wieder schützenden, so dynamischerem wie behütenden Kraft der Gruppe auf.

„bpm“, die beats per minute, zu zählen sind sie nicht, verklungen sind sie längst nicht, wenn die Begeisterung sich immer wieder steigert, denn nach diesem Triumph des Tanzes sind eben aller guten Dinge drei.

 

 

Kommentare

Noch keine Beiträge