„Passion“ von Hans Henning Paar. Tanz: Ensemble
„Passion“ von Hans Henning Paar. Tanz: Ensemble

Ballett der menschlichen Leidensgeschichte

Hans Henning Paars großartige spartenübergreifende „Passion“ in Münster

Bachs „Johannes-Passion“ als Ballett der inneren Bewegung, die dem beeindruckenden Ensemble eine Vielzahl von differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten bietet.

Münster, 03/03/2022

Von Hanns Butterhof

Zu seiner letzten Choreografie für das Tanztheater Münster hat Chefchoreograph Hans Henning Paar Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ von 1724 gewählt. Er hat sie in einer sehr dynamischen Inszenierung als Ballett der inneren Bewegung angelegt, die seinem beeindruckenden Ensemble eine Vielzahl von differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten bietet.

Im Zusammenspiel von Orchester und Tanz, von erzählendem Evangelisten aus der Höhe des ersten Rangs und dem hinter der Bühne des Großen Hauses unsichtbar bleibenden Chor entwickelt sich die Leidensgeschichte Jesu von der Gefangennahme bis zu seinem Tod am Kreuz. Paar, der für Bühne und die Inszenierung allein, für Choreografie mit dem Ensemble zusammen verantwortlich zeichnet, nutzt die klare musikalische Struktur Bachs einfühlsam zu dynamischem Wechselspiel von Gruppen- und eingebetteten Solo-Szenen. Dabei verzichtet er auf einen Tänzer, der als alleinige Jesus-Figur erkenntlich wäre, wie auch weitestgehend auf konkrete Requisiten und Kulissen. Nur kleine, verschiebbare schwarze Quader bieten Gelegenheit, bekennend hinaufzusteigen oder betrachtend darauf zu verweilen. Den Boden der Bühne bedecken Papierschnipsel wie zerrissene Buchseiten. Sie begleiten die Bewegungen des Ensembles mit leisem Flüstern.

Wenn ganz kurz zu Beginn der Bühnenhintergrund offen ist und man Installationen der Bühnentechnik, auch Requisiten aus dem Theateralltag sieht, tanzt im Lichtkreis vorn an der Rampe eine Tänzerin die ewige verzweifelt ekstatische Sehnsucht einer ganzen Welt nach dem, der das Heil bringt. Hinter ihr tobt unsere Konkurrenzgesellschaft: Das Ensemble rast tumultuarisch über die Bühne, einer drängt den nächsten aus der Bahn, hängt sich an ihn, um ihn zu behindern, trampelt ihn zu Boden oder setzt in akrobatischem Sprung über ihn hinweg.

Der Hintergrund der Bühne wird unmerklich von einem Vorhang geschlossen, als an dessen linkem Rand eine weiß überschminkte, nur mit einem Lendenschurz bekleidete Jesus-Gestalt sichtbar wird. In extremer Superzeitlupe wird sie sich im Verlauf der Aufführung dicht am Vorhang entlang bis nach vorne bewegen, wo sie am Ende provokant alleine steht.

Währenddessen spielt sich die Passions-Geschichte ab, beginnend mit der Gefangennahme Jesu. Ein Tänzer küsst als Judas nicht nur Jesus, sondern mehrere andere Jünger und Kriegsleute, und streicht schmeichelnd um die Beine seines Meisters. Derselbe Tänzer ist dann auch Petrus, der mit einem Messer, dem einzigen Requisit der Aufführung, blindlings um sich schlägt. Aber er schlägt nicht, wie der Text vorgibt, dem Malchus ein Ohr ab, sondern tanzt seinen Ekel und seine Wut auf das Geschehen aus. Als er von der Überzahl der Häscher gebändigt wird, ist er Jesus, der abgeführt wird.

Paar ordnet der Figur Jesu keinen einzelnen Tänzer zu, wie er auch die Unterschiede zwischen den Rollen durch zeitlose, erdfarbene Unisex-Kleidung verwischt (Kostüme: Bernhard Niechotz). Er sieht Jesus nicht als konkrete Persönlichkeit, sondern als den Menschen schlechthin. Dessen Bandbreite reicht vom menschlichen Abgrund bis hin zu seinen fast göttlichen Höhen. Wenn die Knechte den völlig kraftlos zwischen ihnen hängenden Jesus verdrehen und demütigen, dann tun sie das auch sich selber, ihrer Menschlichkeit an. Auch die Juden und Hohepriester, die aufgepeitscht chorisch und ruckartig wie mechanisch Jesu Kreuzigung fordern und bei Nennung des Kaisernamens devot einknicken, berauben sich ihrer menschlichen Möglichkeiten.

Paar mutet hier dem Menschen eine größere Fähigkeit zu humanem Handeln an als Bach und der Evangelist. Ihnen ist Jesus Teil des göttlichen Heilsplans, in dem alle ihre vorbestimmte Rolle zu spielen haben und der erfüllt sein will, ohne durch menschliche Selbstbestimmung gestört zu werden.

Im Gesamteindruck herrschen in Paars „Passion“ die Szenen blinden Lebenskampfes und menschlicher Leidensgeschichte vor. Dem gilt auch die ergreifende Trauer der Frauen nach Jesu Tod. Wenn sie sich aber gegenseitig Trost spendend an den Händen fassen, geht davon ein finales Zeichen der Hoffnung aus. Von den Jüngern ist keine Erfüllung dieser Hoffnung zu erwarten. Nach dem Tod ihres Meisters überfallen sie Zweifel, und an einem langen Tisch, der an das Abendmahl-Gemälde Leonardo da Vincis erinnert, beginnen sie zu streiten.

Endlich kommt die blasse Jesus-Gestalt vorne an der Mitte der Bühne an und steht allein im gleißenden Licht – nicht als der Christus, sondern als die Heils-Idee, die anfangs angerufen wurde, aber nicht Wirklichkeit geworden ist. Nun befragt sie uns eindringlich, was sie uns heute bedeutet.

„Passion“ ist eine großartige spartenübergreifende Produktion mit sechs Gesangssolist*innen, 15 Tänzer*innen und je fünfundzwanzig Chorist*innen und Orchester. Paar betrachtet den Tanzabend vor allem als Abschiedsgeschenk, Liebeserklärung und Dank an sein Ensemble für die Zeit ihrer Zusammenarbeit am Theater Münster. Mit seiner Choreografie hat er den dafür passenden Ausdruck gefunden, indem er dem während der gesamten zweistündigen Aufführung beständig auf der Bühne anwesenden Ensemble jede Gelegenheit gibt, sich in seinem ganzen Können ausdrucksstark zu präsentieren.

Es tanzten Maria Bayarri Pèrez, Chiara Bonciani, Enzo Convert, Marieke Engelhardt, Eleonora Fabrizi, Ilario Frigione, Fátima López García, Matteo Mersi, Tsutomu Ozeki, Tarah Malaika Pfeiffer, Adrián Plá Cerdán, Enrique Sáez Martínez, Raffaele Scicchitano, Leander Veizi.
Ihnen allen und dem solistischen Gesang von Eva Bauchmüller, Dorothea Spilger, Stefan Sbonnik, Stephan Klemm, Raphael Wittmer und Gregor Dalal, dem eindrucksvollen, von Anton Tremmel gefühlvoll einstudierten Chor und dem nah am aufgerauten Originalklang unter Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg musizierenden Sinfonieorchester Münster sowie dem Regieteam um Hans Henning Paar galt der langanhaltende Standing Ovations des Premierenpublikums.

Die nächsten Termine: 3., 4., 18, 22. und 26.3., jeweils 19.30 Uhr

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