Facettenreich

Buchbesprechung: "Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven"

Der interdisziplinär angelegte Band zeigt unterschiedliche Sichtweisen und originelle Forschungsansätze zum Begriff der ‚Geste‘ und des ‚Gestischen‘ als Vorgang und als Disposition im Sinne einer forschenden Haltung auf.

Berlin, 25/01/2021

Von Claudia Fleischle-Braun

Obwohl ich mich nach der Lektüre des Arbeits- und Handbuches insgesamt eher etwas ratlos und irritiert fühle, empfand ich die gedankliche Auseinandersetzung mit dem interdisziplinär angelegten Band „Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven“ außerordentlich anregend. Die Autorinnen und Autoren haben in diesem Band ihre unterschiedlichen individuellen Sichtweisen, Zugänge und originellen Forschungsansätze aufgezeigt, indem sie den Begriff der ‚Geste‘ und des ‚Gestischen‘ als Vorgang und als Disposition im Sinne einer forschenden Haltung in das Blickfeld ihrer Überlegungen nahmen. Sie fokussierten ihre Forschungsthematik unter dem Blickwinkel einer „gestischen Forschung“ im Sinne dieser Haltung und nahmen diese als einen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und Forschungsarbeit. Da in diesem Buch Beiträge aus ganz unterschiedlichen Arbeits- und Fachdomänen versammelt sind – aus der ästhetischen und künstlerischen Praxis, aus Performance, Tanz und Theater, aus dem Feld von Sprache und Literatur, des Weiteren aus dem Feld der visuellen Künste, dem grafischem Gestalten sowie der Körper- und Modegeschichte und nicht zuletzt aus dem Blickwinkel von Philosophie, Kulturgeschichte und Architektur – ist das Werk facettenreich, vielstimmig und vielschichtig geworden. Spannend wird es auch, weil zudem auf einer Meta-Ebene ein fachübergreifender Dialog angestiftet wurde und dadurch werden auch charakteristische Besonderheiten dieses Forschungsthemas und -ansatzes herausgearbeitet.

Der inhaltliche „rote Faden“ des Arbeitsbuches verläuft über folgende Teilabschnitte: Nach einer sehr kompakten und dichten Annäherung an die Thematik, die als Einführung von Veronika Darian und Peer de Smit verfasst wurde, folgen zwei weitere wissenschaftstheoretische Beiträge. Zunächst wird von Fabian Goppelsröder die Denkfigur der Geste „als wissens- und wahrnehmungskonstitutives Medium“ im Zusammenhang mit der Forschungsgeschichte erörtert und inhaltlich bestimmt. Für den Autor zeichnen sich drei wesentliche Verständnisstränge ab: die Geste als nonverbale (Universal-)Sprache, die Geste im Zusammenhang des Inkorporierten, die Geste im Zusammenhang des künstlerischen Interesses am Körper. Anschließend wird von Veronika Darain das „Forschen als Geste“ und „Gestisches in der (Er-)forschung“ in drei thematisch miteinander verbundenen „Angängen“ erörtert, wobei die Autorin vor allem auf die Performativität des wissenschaftlichen Handelns und die selbstreflexive Haltung und kritische Selbstvergewisserung des eigenen Tuns im Forschungsprozess abhebt.

Das Gestische von Sprache, Schreiben und Aufzeichnen thematisieren Peer de Smit am Beispiel der Worte von Paul Celan, Michal Renner am Beispiel der graphischen Gestaltung der Schrift und Isa Wortelkamp verdeutlicht anhand der Aufzeichnung sichtbarer Bewegungsspuren sowie anhand des Wandels des choreografischen Begriffsverständnisses und nicht zuletzt den ‚Spuren‘ des Schreibens über Tanz, die dabei stattfindenden gestischen Übertragungsvorgänge. Den gestischen Funktionen im architektonischen Raum und der Choreografie des Stadtraums widmen sich die Beiträge von Andrea Jäkel (zusammen mit M. Gebhardt/ A. Könemann/ T. Voecks) sowie von Till Boettger und Martina Reichert. Letztere spüren durch Tanz- und Bewegungsstudien den Schwellenräumen im Kreuzgang des Hildesheimer Doms auf bzw. nach und illustrieren jene bildlich.

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Geste als Fremdheitsfigur und dem „gestischen Aneignen und Agieren“. Dies geschieht bei Jessica Hölzl in experimenteller Denkweise mittels einer theaterwissenschaftlichen Studie zu Tim Spooners Inszenierung „Assembly of Animals“ (UA 2014, Cambridge). Micha Braun analysiert und diskutiert aus kulturhistorischer Perspektive zwei Fallbeispiele aus aktuellen europäischen Konfliktherden (Viktor Orbáns nationale Ungarn-Politik und die Flüchtlingsströme zwischen Europa und Afrika) und zeigt dabei die Umkehrung populistischer Diskurse und auch die künstlerische ‚Umwendung‘ solcher gestischen Praktiken auf. Ebenfalls aus einem theaterwissenschaftlichen Blickwinkel dekonstruieren Eichirò Hirata das zeitgenössische japanische Körpertheater und Maren Witte die Potenziale der Geste des Bummelns am Beispiel einer Aufführung von Martin Clausen, inszeniert nach dem Kinderbuch von Elizabeth Shaw (1971). Melanie Haller diskutiert die Relationalität des Gestischen, indem sie den Zusammenhang von Körper, Bekleidung und Bewegung am Beispiel der um 1920 gängigen „Kunst des Kleiderraffens“ beleuchtet.
Das abschließende Kapitel ist der gestischen Forschung in der Praxis gewidmet. Sowohl in dem Essay von Michael Wehren „Willkommen in Zooropa“ als auch in der Beschreibung des vielschichtigen Theaterprojekts von Rée und Peer de Smit „festhalten, berühr mich nicht“ lässt sich die (durchaus produktive) assoziative Vermengung künstlerischer und wissenschaftlicher Vorgehensweisen als prägendes Charakteristikum herausfiltern. Ein Gespräch von Ulrike Hass und Sven Lindholm über ‚szenische Forschung‘ verdeutlicht nochmals einige Zusammenhänge einer solchen Forschungspraxis zu den phänomenologischen Betrachtungen von Vilém Flusser (1991) zur Geste und sie reflektieren dabei die Position des / der Forschenden. Hierbei sind Stimmung und Gestimmtheit wichtige Begriffe, welche die gestische Aktion und Forschung begleiten.
In diesem Zusammenhang fallen mir speziell auch die von Rée de Smit geschaffenen künstlerischen „EchoGraffitos“ auf, die den Texten beigefügt sind. Sie vermitteln und schenken den Lesenden notwendige Denkpausen, an manchen Stellen sorgen sie für eine wohltuende Unterbrechung und gestatten ein Nachsinnen über das Gelesene. Aufgrund der metatheoretischen Verweise und Einordnungen sind die Textbeiträge bisweilen sehr kompakt und dicht formuliert.

Aber meine Neugier auf den in diesem Band diskutierten Forschungsgegenstand hat sich bezahlt gemacht, denn durch die facettenreichen und in sich stringent formulierten Beiträge konnte ich eine Vielzahl an spannenden und weiterführenden gedanklichen Anregungen erhalten. Vor allem haben sie mich zur kritischen Befragung und Vergewisserung der eigenen wissenschaftlichen Forschungspraxis angeregt. Allerdings bleibt gerade hier auch eine gewisse Ratlosigkeit und ein widerständisches Gefühl: Haben doch in dem mir vertrauten Kontext der angewandten Praxisforschung in der Sport- und Tanzpädagogik oder auch in der Tanzhistoriographie Kriterien, wie beispielweise die Diskussion der Intentionalität und der Methodenwahl sowie die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, zumeist eine andere Gewichtung als in den thematischen Beiträgen, die konkrete Praxisprojekte in den Blick nahmen. Dort erschien das Gestische mir bisweilen vor allem als Mittel einer ‚performativen‘ Darstellung und Reflexion der Forschungsarbeit, die Arbeitsergebnisse und der faktische ‚Mehrwert‘ blieben dagegen etwas blass und nur schwerlich erkennbar. Die im gestischen Forschungsansatz betonte ästhetische Dimension ist zweifellos eine zusätzliche Qualität in der Rezeption und für das Verständnis und ebenso im kommunikativen Austausch, so auch im wissenschaftlichen Forschungsprozess. Besonders lesenswert empfand ich vor allem auch die Beiträge, welche in einem starken Bezug zum theoretischen Forschungsstand verfasst wurden. Dem von Veronika Darian und Peer de Smit herausgegebenen Band ist eine große Resonanz zu wünschen, da dem darin thematisierten Ansatz zur gestischen Forschung durchaus ein wegweisendes Anregungspotential für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zuzuweisen ist.

Veronika Darian/ Peer de Smit (Hrsg.): Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven. Berlin: Neofelis-Verlag, 2020. ISBN: 978-3-95808-246-5

 

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