"Oscillation" mit Arno Brys, Gabin Corredor, Orla McCarthy und Marc Galvez

"Oscillation" von Iván Pérez. Tanz: Ensemble

Auf der selben Wellenlänge

Mit „Oscillation“ vollendet der Heidelberger Tanzchef Iván Pérez seine Trilogie über die Millenials

Nachdenken über die Generation Y, die Millenials, die zur Jahrtausendwende an der Schwelle zum Erwachsensein stehen, ist für den Heidelberger Ballettchef Iván Pérez eine höchst authentische Fragestellung; er gehört selbst dazu.

Als Iván Pérez 2018 mit „Impression“ seine allererste große, vom Orchester begleitete Premiere in Heidelberg zeigte, konnte niemand ahnen, wie politisch aktuell sein choreografisches Nachdenken über die angeblich zwischen Selbstoptimierung und Terrorangst, Technikgläubigkeit und Fortschrittskritik pendelnde Generation werden sollte. Die Rettung liegt für Pérez – ein verbindender Grundzug in seinen bisherigen Stücken – in der Bildung einer tragfähigen Gemeinschaft.

Während im zweiten Teil der Trilogie „Dimension“ die Mitglieder des Dance Theatre Heidelberg über weite Strecken mit technischen Spielereien um sich selbst kreisen durften, hat sich Pérez‘ Blickwinkel auf die Millenials im Verlauf der Pandemie verändert: Er ist zugleich distanzierter und genauer geworden. In einer Kooperation mit dem EMBL, dem Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie, hat sich der Choreograf von einer grundlegenden physikalischen Bewegungsqualität faszinieren lassen, die sich auf zellulärer Ebene genauso beobachten lässt wie im Herzschlag des Menschen. „Oscillation“, mit dem Begriff Schwingung nur unzureichend beschrieben, ist das Forschungsfeld für diesen fast achtzigminütigen Tanzabend.

Wieder Teil des künstlerischen Teams war der katalanische Komponist Ferran Cruixent, der sich bereits in „Dimension“ als musikalischer Tausendsassa präsentierte. Auch sein neues Stück mäandert durch die musikalischen Genres wie durch einen Themengarten, aber in diesem Werk dauert es lange, bis sich einmal Streicher-Schönklang gegenüber Clusterbildung, serieller Musik, minimalistischen Wiederholungen oder raffinierter Geräuschkulisse durchsetzen darf. Cruixent hat sich bei seiner Komposition von der Menschwerdung des Embryos inspirieren lassen, und die Mitglieder des Heidelberg Orchesters - souverän angeleitet von Dietger Holm - müssen einige ungewohnte Aufgaben meistern. Per Handy zugespielte Aufnahmen von Walgesängen gehören dazu.

Das gemeinsame Schwingen eines Paares als Voraussetzung für die Menschwerdung hat Iván Pérez wie einen roten Faden durch die Choreografie gezogen: Spektakulär ist das Anfangsbild, bei dem sich das Paar mit endloser Zärtlichkeit um einander windet – allerdings scheinbar schwerelos an der Bühnenrückwand klebend. Die täuschend dreidimensional wirkende Projektion gibt den Blick aus der Vogelperspektive auf das Paar am Boden wieder – ein Effekt, der sich mehrfach auch zeitversetzt wiederholt, sodass die realen Tänzer mit ihren Projektionsbildern um die Aufmerksamkeit des Publikums wetteifern können. Pérez lässt dieses Stück von nur drei Tänzerinnen und drei Tänzern seiner Company (in wechselnder Besetzung) tanzen; „weniger ist mehr“ scheint eine der Leitlinien dieses Abends zu sein. Weich fallende, fließende Stoffe in warmen, aber zurückhaltenden Farben prägen die betont puristischen Kostüme (Carlijn Petermeijer); William Forsythes ehemalige Beleuchtungsmeisterin Tanja Rühl hat ein ruhiges Lichtdesign mit starken Effekten kombiniert.

Menschen sind Nesthocker; es dauert viele Jahre, bis sie im Vollbesitz ihrer koordinatorischen Fähigkeiten sind. Entsprechend viel Zeit widmet die Choreografie den Versuchen der Protagonisten, Körper und Gliedmaßen grundlegend unter Kontrolle zu bekommen. Immer wieder sinken sie wie instabile Gliederpuppen in sich zusammen, immer wieder sind es rhythmische Bewegungen, die für fragile Stabilität sorgen. In der Senkrechten beginnt das Liebespaar einen schier endlosen, faszinierend ausbalancierten Wirbel im Kreis; über einen langen Zeitraum halten sich die Beiden buchstäblich mit Blicken aneinander fest. Die übrigen Performer entdecken die Kraft der Beschleunigung und laufen immer schneller im Kreis. Am Ende schleudert das unerbittliche Rennen auch das Liebespaar auseinander. Zum versöhnlichen Ende finden sich die Beiden als Teil der Gruppe wieder, die im Gleichklang harmonisch schwingt, ohne dem Drill eines Unisono zu gehorchen: Jeder darf sich seine Individualität bewahren. Das Heidelberger Publikum im tatsächlich voll besetzten Maguerre-Saal nahm diese Botschaft freundlich an.

Begleitet wurde die Choreografie von einem Projekt der UNESCO City of Literature Heidelberg: Sechs Autorinnen und Autoren, darunter Regionalkrimi-Autor Marcus Imbsweiler, haben sich von der choreografischen Trilogie zu literarischen Reflexionen animieren lassen. Die Texte finden sich in der Broschüre Zwischenzeiten/Zwischenzeilen, die im Theater erhältlich ist.

Kommentare

Noch keine Beiträge