Endlose Revolutionen

„100 Jahre Revolution“ - der erste Teil von Sergiu Matiş zweiteiliger Kreation in den Uferstudios Berlin

Mutig seziert der Choreograf den Roten Oktober, doch findet er dafür leider wenig stille Bilder.

Berlin, 04/07/2017

Unter Berlins jungen Choreografen gehört Sergiu Matiş zu den interessantesten und anregendsten. Vielfältig sind die Themen, mit denen er die Welt befragt und so auf der Suche nach sich selbst ist: sexuelle Orientierung, Auseinandersetzung mit seiner Karriere als klassischer Tänzer. Nun taucht er in die Historie ein. Zum 100. Geburtstag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution untersucht er im zweiteiligen Projekt „Neverendings“ Fakten und Nachwehen des zeitgeschichtlichen Ereignisses. Das verrät gigantomanen Mut, nötigt Respekt ab und reizt zum Widerspruch. Teil eins des Titels „100 Jahre Revolution“ pfercht die Zuschauer eine gefühlte halbe Stunde unter ohrensprengendem Gedröhn und zu Live-Geschrei per Mikros zwischen Mauern aus Stapelkartons ein. Aufbruch in eine neue Welt?

Die tut sich auf, als eine der lärmenden Aktricen endlich die Mauer einstößt. Man folgt ihr in Uferstudio 14, das zu einer chaotischen Kartonlandschaft drapiert ist – Metapher für die vollmundigen Versprechungen einer Revolution, die sich als potjomkinsche Staffage erwiesen hat? Vor einer gleißenden Wand steht das Tänzerquintett und singt kanonartig leere Vokalisen. Dann mischen sich die Revolutionäre mit pseudorussischen und russischen Zitaten unter die Zuschauer und tanzen schwingend, im Gegensatz zum lauten Einstieg. Diffus wie die Revolution und gemeinplätzig gestaltet sich dieser Tanz im einsperrenden Revolutionskäfig, sodass jede wohlmeinende Deutung möglich ist. Losungen werden skandiert, man zollt den Helden Ehre, beklagt mangelnde Hoffnung. Dada 2017?

All dies wird von mehreren Seiten eifrig gefilmt, denn es soll zum Oktober eine TV-Reality-Show daraus werden. Um Lügen geht es und dass die Bewegung, hier wohl politisch gemeint, niemals lügt. Agitationschöre zählen in endloser Folge die Namen jener auf, die mit dem Großereignis irgend assoziierbar sind, von Lenin über Che bis Jelzin, von Majakowski bis Pussy Riot, von Achmatowa bis Zwetajewa, von Krupskaja bis Luxemburg und von Schlächter Pol Pot bis zum amüsanten Kuss Breschnew/Honecker. Ob dem Zuschauer damit gedient ist, steht zu fragen. Viele der Episoden sind außerdem entschieden zu lang geraten.

Statt zur Generaloffensive auszuholen, wäre es sinnvoll gewesen, einige Aspekte herauszugreifen und gründlich zu behandeln. In emsiger Aufbauarbeit formt sich dann aus den Kartons so etwas wie der berühmte Tatlin-Turm. Der Zuschauer darf sich auf der Tribüne niederlassen. Vor ihm im Saal läuft das Blut der Akteure zu roten Pfützen aus; eine weiße Stoffbahn darüber wird bald zur triefend hängenden Fahne, vor der die Genossen wie auf einem Sowjet-Gemälde in pathetische Posen verfallen. Solch stiller Bilder hätte man sich mehr gewünscht anstatt der Texttiraden. Die aber dominieren den letzten Teil. Um Russifizierung der Natur debattiert man und isst Bananen, um Ausbeutung heute und den Kollaps der Hoffnungen. Einer tritt am Ende verzweifelt den Tatlin-Turm ein. „Tagträume für eine bessere Welt“ heißt Teil zwei.

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