„Tracing Isadora“ von Dominique Dumas 

„Tracing Isadora“ von Dominique Dumas 

Wohin mit Nike?

Dominique Dumas: „Tracing Isadora“ ein Projekt des Tanzfonds Erbe uraufgeführt am Nationaltheater Mannheim.

1907 fiebert Mannheim, das sein 300-jähriges Stadtjubiläum feiert, nicht nur der Eröffnung des Industriehafens entgegen, sondern auch einem Auftritt der Duncan, im Freien. Dieses Lokal-Ereignis ist für die Choreografin Dominique Dumas Anlass zu „Tracing Isadora“.

Mannheim, 11/03/2014

Die Spurensuche der Franko-Kanadierin resultiert in einem über dreistündigen Dreiakter, inklusive zwei Pausen. Virtuos am Piano begleitet von Rainer Böhm stellen sich im ersten Akt die 14 Tänzerinnen und Tänzer nacheinander solistisch vor. Was auf der Vorbühne die Solo-Rezitals der Epoche nachzuempfinden versucht, um den Individualismus als Errungenschaft der Moderne zu proklamieren, wird zu einer quälenden Leistungsschau. Diese gibt dem Zuschauer viel Zeit (fast eine Stunde) zu überdenken, wie viel Lichtjahre vom „Körper-Seele-Geist“-Credo der Duncan entfernt dieses Vortanzen ist. Hinter dem Arbeitsauftrag der Choreografin, der zu lauten scheint: Auftritt, eine Begegnung mit dem Vorgänger, eine mit dem Flügel, etwas Gesprungenes, etwas am Boden, Begegnung mit dem Nachfolger und Abgang, verschanzen sich Haltungen, die von narzisstischer Selbstbespiegelung erzählen, von Akteuren, die sich im sportiven Höher, Härter und Schneller um Kopf und Kragen tanzen, die im Sinne einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft permanenter Selbstoptimierung dienstbar, ihre perfektionierte Tanztechnik, kraftvoll und formvollendet zu Markte tragen. Nur wenige Tänzerinnen (Hitomi Kuhara, Julia Headley) vermitteln das Gefühl, dass ihre Bewegungen auch aus inneren Motiven gespeist werden.

„Ich bin keine Tänzerin, ich bin eine Künstlerin“ betont Isadora Duncan (1877-1927) immer wieder. Ein Satz, der wie in Stein gemeißelt die künstlerische Souveränität der Tanzkunst behauptet. Das Ballett war Ende des 19. Jahrhunderts zu kommerzieller Unterhaltung, zu reiner Belustigung, zum Varieté degeneriert. Vor dem historischen Hintergrund vieler neuer Erfindungen (Kinematograph, Elektrizität) und technischer Errungenschaften (Glühlampe, erste Metro) schrie der Zeitgeist förmlich nach einem neuen Selbstverständnis des Menschen, des Körpers, der Bewegung und nicht zuletzt nach Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. An der Schnittstelle zur Moderne des Tanzes steht der Franzose François Delsarte (1811-1871), dessen bewegungspädagogische Systematik auf viele Reformer – nicht nur des Bühnentanzes – prägenden Einfluss hatte.

Zu Isadora Duncan, deren Mutter, eine geschiedene Frau mit vier Kindern, den Lebensunterhalt mit einer Tanzschule verdient, schwappt das neue Gedankengut dank des Delsarte-Adepten Steele MacKaye und der Schrift „The Delsarte System of Expression“ (1885) der MacKaye-Schülerin und Gymnastiklehrerin Genevieve Stebbins. Soweit zurück verfolgt Dumas‘ die Spuren allerdings nicht. Sie betont (im Programmheft) die amerikanische Herkunft ihrer Protagonistin, und postuliert damit, wenn auch indirekt, den aus europäischer Sicht längst obsoleten Glauben vom alten Europa und der Moderne, die ihre Wurzeln in der Neuen Welt habe. Die Biografie der Duncan spricht eine andere Sprache, aber Biografisches blendet die Franko-Kanadierin im Stück weitestgehend aus.

Laut ihren Memoiren verlässt Isadora Duncan als Elfjährige die Schule, um ebenfalls als Tanzlehrerin zum Unterhalt der Familie beizutragen und macht, nachdem die Familie 1899 nach London übergesiedelt ist, Karriere in Europa. 1903 hält sie einen Vortrag zum Thema: „Der Tanz der Zukunft“. 1904 choreografiert sie auf Einladung von Cosima Wagner für Bayreuth das Bacchanal der Oper „Tannhäuser“. 1905 tritt sie mit Schülerinnen auf, wegen der griechischen Tuniken und der nackten Beine werden die Auftritte der Kinder polizeilich verboten. 1906 kommt Deirdre, die gemeinsame Tochter von Isadora und Eduard Gordon Craig zur Welt.

Der Bühnenbildner und Theaterreformer ist einer ihrer vielen Liebhaber, der zur Hochzeit ihrer Karriere sagt: „She was telling to the air the very things we longed to hear and until she came we had never dreamed we should hear.“

Von diesem Traum macht der zweite Akt einiges wahr. Musikalisch unterfüttert vom Kammerensemble des Theaters mit „Lichtbogen“ (Kaija Saariaho) und „Part IV Material in a long Cadence“ (Nico Muhly) entsteht eine Symbiose aus Musik, Licht (Bonnie Beecher), Raum (und Kostüme: Tatyana van Walsum) und Tanz. Bis in den Bühnenhimmel reichende hohe, von oben mit Licht gefüllte Säulen aus schmalen Plastikbändern werden zum Partner der Tänzer. Haut-farbene Kostüme, organischer Bewegungsfluss, solistische Statements, Begegnungen, die auf raffinierte Weise an Olympioniken und an Bewegungschöre erinnern, skizzieren eine in sich stimmige, schwebende Landschaft. Eine fast transparente Welt, in der die Ästhetik der Bewegung hoch geschätzt wird und in Anlehnung an die Antike, die Skulptur der Nike hin und her getragen wird.

Analog zur Spurensuche der Ausdruckstänzerin wird die mythische Siegesgöttin eilig von Ort zu Ort platziert. Wohin mit Nike? Wurzellos, und schlimmer noch kopflos, sind zumindest ihre wunderschönen Flügel erhalten geblieben und geben Grund zur Hoffnung. So schweben die Barfußtänzerinnen und –tänzer im dritten Akt anspielungsreich vor Wasserprojektionen, die auf unzählige schicksalhafte Begebenheiten Bezug nehmen, die das Element für die Duncan hatte. Zu Röcken gebunden sind Vierecktücher beider Geschlechter. Gelb-, Rot und Rosttöne wecken Assoziationen an Herbstlaub. Lyrisches Aufatmen der oben ohne Nymphen hätten ein Schlussbild in der Nähe Isadoras sein können. Doch dann formiert sich das Ensemble an der Rampe, und jeder darf seinen Namen nennen. Zu schlicht, um Tanztheater genannt zu werden. Ein schwungvolles Gruppenstück, bei dem jeder der Tänzer einen eigenen, teils humoresken Abgang findet und Isadora im Rot der Leidenschaft von einer der mächtigen Licht-Säulen verschluckt wird, um langsam aus dem Schatten der Säulenheiligen herauszutreten, während der Decker leise sinkt.

Wohin mit Isadora? Der Vorhang fällt und viele Fragen bleiben offen, möchte man mit Marcel Reich-Ranicki resümieren. Ist wohlbehaltene Neoklassik der Tanzgeschichte letzter Schluss? Ist die kopflose Siegesgöttin Nike gleichsam zum Maskottchen der Ratlosigkeit mutiert? Wo sind die diskursiven Instrumente, um der immateriellen Erbschaft ein artgerechtes Überleben zu garantieren?
 

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