„Sacré Sacre du Printemps“ von Laurent Chétouane

„Sacré Sacre du Printemps“ von Laurent Chétouane

Annährungen an ein verlorenes Original

Im Radialsystem V feierte eine Konferenz das Zentenarium von „Le Sacre du Printemps“

„Tanz über Gräben“ hieß die Konferenz, die gemeinsam die Kulturstiftung des Bundes und das Zentrum für Bewegungsforschung an der Freien Universität ausrichteten. Vier Tage feierten im Radialsystem V internationale Wissenschaftler und Praktiker das Zentenarium jener „Sacre“-Revolution und forschten ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart nach.

Berlin, 18/11/2013

Im Archiv des Pariser Théâtre des Champs-Elysées soll ein Film existieren, der, nur wenige Sekunden kurz, einen Eindruck vom Tumult fixiert. Hervorgerufen hatte ihn an jenem 29. Mai 1913 das Werk eines jungen Wilden. Zum verstörend ungewohnten Klang der musikalischen Vorlage, Igor Strawinskys knapp 40-minütigem „Le Sacre du Printemps“, hatte Waslaw Nijinsky, Starballerino der Ballets russes, alles Balletthafte aus seiner Choreografie getilgt und programmatisch ein Antiballett kreiert, wie man es sich damals kaum vorzustellen vermochte. Einwärts gedrehte Füße und abgewinkelte Arme, geneigte Köpfe und verdrehte Leiber, das Stampfen im Takt der Musik und expressiv flackernde Bewegungen entzogen der im Theatertanz noch immer gängigen Spätromantik jedweden Boden. Die Zuschauer versetzte jenes heidnische Ritual um eine den Fruchtbarkeitsgottheiten geopferte Jungfrau derart in entsetzte Rage, dass sie auf ihre Art, schreiend und tobend, mittaten und einen Skandal hervorriefen, wie ihn sich mancher Theaterprovokateur heute nur wünschen könnte. Erst viel später hat man erkannt, welche Signalwirkung von dieser Uraufführung ausging. Zum einen verhalf sie, so roh, brutal, ungeschönt sie war, einer neuen, zeitgenössischen Tanzweise zur Sturzgeburt. Zum anderen ließ sie zeitfühlig die Schrecknisse des schon vor der Tür stehenden ersten Weltkriegs anklingen, ein Jahr nur vor seinem Ausbruch.

Gekämpft und massenhaft gestorben wurde dort in Schützengräben, Opfer waren jugendliche Soldaten. „Tanz über Gräben“ hieß daher symbolträchtig eine Konferenz, die gemeinsam die Kulturstiftung des Bundes und das Zentrum für Bewegungsforschung an der Freien Universität ausrichteten. Vier Tage feierten im Radialsystem V internationale Wissenschaftler und Praktiker das Zentenarium jener „Sacre“-Revolution und forschten ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart nach.

Der Opferaspekt sowie die Dualität von Abstraktion/Ornament und Modernismus/Primitivismus bildeten die Schwerpunkte. Den wenigen, abstrakt geometrischen Grundmustern der Choreografie stehen folkloristisches Ornament und Farbe in Nicolas Roerichs Ausstattung gegenüber; Bestandteil des modern empfundenen Tanzes ist der Rückgriff auf primitive Rituale in ihrer unverstellten Gewalt. Eine exakte Vorstellung von Nijinskys Schöpfung haben wir indes nicht. Notationsskizzen, Figurinen, Fotos, ein paar Beschreibungen künden von dem kurz nach der erregten Premiere bereits verlorenen Werk. Die englische Choreografin Millicent Hodson hat es zusammen mit Kenneth Archer vor wenigen Jahren rekonstruiert, rund 200 Kollegen schufen zuvor Annäherungen an das Thema.

In ihrem Einführungsvortrag umriss die Konzeptverantwortliche Gabriele Brandstetter den Stellenwert, den „Sacre“ im Umfeld der revoltierenden Künste jener Zeit hatte, und wie konsequent Nijinsky das Eingeständnis menschlicher Erdenschwere zurück auf die Theaterbühne holte: Reduktion statt Ballettdekor. Weitere Referenten aus deutschen, europäischen und amerikanischen Universitäten umkreisten die genannten Schwerpunkte. Was die Konferenz so lebendig machte, waren mehrere Vorstellungen zu Strawinskys Jahrhundertstreich. Auf riesiges Interesse stieß ein Gastspiel der Theater Osnabrück und Bielefeld, wo man als Tanzfonds-Erbe-Projekt mit immensem Kraftaufwand Mary Wigmans „Sacre“ wiederbelebte. Zeitzeugen schildern den Eindruck der Präsentation im Radialsystem V als stärker als zur Uraufführung 1957 an der Städtischen Oper Berlin, dort mit der von Wigmans Antipodin Tatjana Gsovsky geleiteten Kompanie. Wigmans letzte große Arbeit für ein Theater berührt tief durch die stringente Konzeption der beiden Teile: die Kreisformen und die chorischen Staffelungen bei der Anbetung der Erde; den stilisierten Tanz des Opfers bis zum Erschöpfungstod. All ihre choreografische Kunst bietet die „Hohepriesterin des Tanzes“ nochmals auf, um inneres Erleben sichtbar zu machen, und hat damit eine zeitlos gültige Lesart geschaffen, die nun ins Repertoire auch anderer Ensembles eingehen wird. Über die Mühen des einjährigen Rekonstruktionsvorgangs gaben Mitglieder des Teams plastisch Auskunft. Nicht geglückt hingegen ist Laurent Chétouanes erschreckend hilfloser Versuch „Sacré Sacre du Printemps“, die Opferproblematik in den Blick auf das Fremde umzudeuten. Noch scheint das letzte Wort zu Strawinskys Wurfgeschoss ins 21. Jahrhundert hinein nicht wirklich gesprochen, weder verbal noch choreografisch.

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