Wie weiland 1683 die Türken vor Wien?

„Raymonda“ : eine Nachmittagsvorstellung beim Zürcher Ballett

oe
Zürich, 13/05/2010

Es hat in der laufenden Spielzeit vier große Klassikerproduktionen bei uns gegeben: zweimal „Schwanensee“, einmal von Aaron Watkin in Dresden und dann von Christopher Wheeldon in Karlsruhe, „La Péri“ von Vladimir Malakhov in Berlin und „Raymonda“ von Heinz Spoerli in Zürich. Und „Coppélia“ in Wien? Da handelte es sich offenbar um die restaurierte Antiquität von Opa Harangozó, anno 1953. Und die neue „Raymonda“ in Mainz? Habe ich leider nicht gesehen – rangiert aber doch wohl kaum auf der gleichen Ebene wie Dresden, Karlsruhe, Berlin und Zürich. Und das gilt wohl auch vom „Schwanensee“ im Radebeuler Off und vom Thossschen „Dornröschen“ in Wiesbaden. Keine schlechte Bilanz – besonders wenn ich die offenbar fulminant geglückte Wiederaufnahme von Neumeiers „Schwanensee“ in Hamburg und die omnipotente Klassikerpräsenz in München sowie die langgedienten Klassiker in Stuttgart dazu rechne.

Alles in allem kommt mir die Situation im Frühjahr 2010 so ähnlich vor wie – die Türken vor Wien vor rund dreihundertfünfzig Jahren. Ein gewagter Vergleich? Ich gebe zu: ein lächerlicher Vergleich! Der mir einfiel, als ich an die Düsseldorfer Premiere von Feldman/Schläpfers „Neither“ dachte. Die erschien mir, ich habe das ja schon im koeglerjournal kommentiert, wie der Angriff feindlicher Aliens aus der Galaxie. Ein Angriff auf all das, wofür seit ein paar Jahrhunderten das klassische Ballett steht. Vergleichbar dem Angriff des Islams auf die Werte unserer christlichen abendländischen Kultur. Feldman/Schläpfer in Personalunion als Sultan Sulaiman, gegen den sich der Ballett-Kontinent geschlossen zur Wehr setzt, verteidigt unter dem Prinzen von Hamburg, einem Nachfahren des Prinzen Eugen! Ich gebe es ja zu: lächerlich!

Gleichwohl kam mir der Gedanke bei der „Raymonda“-Matinee am Himmelfahrtstag im Zürcher Opernhaus. Genau: beim Aufzug des Sarazenen -Gefolges mit den flatternden Fahnen von Abderachman! Eine gut besuchte Vorstellung (sehr im Gegensatz zur abendlichen Aufführung der Oper „Der ferne Klang“ von Schreker vor einem allenfalls Viertel vollen Haus) – ein sichtlich enthusiasmiertes Publikum und eine bestens konditionierte Kompanie, exzellent trainiert, mit einer picobello Solisten-Equipe und einem fabelhaften Ensemble. Was für eine Musik (besser als Tschaikowsky – als Adam, Burgmüller und Kompagnons sowieso). Was für eine Klarheit im Aufbau der Ensembles, in der Struktur ihrer Gliederung in Soli, Pas de deux, kleinere und größere Gruppen, ihrer innigen Verbrüderung mit der Musik. Welch ein kristallin funkelnder Glanz! Und welch eine jugendliche Lebensfreude, die in Wogen ins Parkett schwappte! Eine Woche nach Düsseldorfs „Weder Noch“ die Bestätigung alles dessen, was wir (ich) am Ballett lieben! Die Attacke aus dem Kosmos abgewehrt! Wie weiland die Türken vor Wien. Auch wenn man mich jetzt nachgerade für völlig senil hält!

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern