Schule des Lebens voll Kraft und Anmut

Festival „Tanz! Heilbronn“ startet mit Jugendtanzprojekt

Heilbronn, 29/05/2009

Einen besseren Start für "Tanz! Heilbronn", das erste Tanzfestival der neuen Intendanz am Berliner Platz, hätte man sich nicht wünschen können. Zweimal ausverkauft ist die Performance „Man müsste eigentlich schweben“ im Komödienhaus. Hut ab vor der Berliner Tanzpädagogin Nadja Raszweski, die das mitreißende Stück mit 42 Schülern der Wilhelm-Hofmann-Schule innerhalb von vier Wochen erarbeitet hat.

Zuerst in schwarzen Klamotten, die Kapuze über den Kopf gezogen, sind sie anonyme Kids, die sich eher in die innere Emigration zurückziehen, niemand an sich ran lassen und in Machoposen vor einer Graffitiwand mauern. Aggressives Mobbing, gesellschaftliche Kälte und urbane Härte im alltäglichen Überlebenskampf der No-Future-Generation sind der atmosphärische Hintergrund, vor dem die Sehnsucht nach Ruhe, Nähe und Liebe aufflammt. Immer wieder schmiegt sich einer in einen ausgehöhlten Baumstamm. Das Holzobjekt, ein Stück Natur im Zentrum der Bühne, ist Fluchtpunkt und Anlaufstelle. Die Gruppe zieht Einzelne, die sich isolieren, immer wieder aus ihrer Depression heraus. Zu treibenden Rhythmen entwickelt sich langsam ein beschwingtes Miteinander. Die Teenager balancieren Gegenstände durch den Raum, bauen Körperskulpturen, messen sich anhand kleiner Schrittfolgen und vermessen, angeregt von „Stadt, Land, Fluss“, spielerisch die Welt in Improvisationen mit Zollstöcken und Maßbändern. Die Kleidung wird individueller und bunter, die Bewegungen mutiger und dynamischer. Artistische Einlagen, Break Dance-Folgen und schwungvolle Gruppenchoreografien reizen die Zuschauer mehrfach zu Szenenapplaus.

„Vor dem Tanzprojekt war jeder allein, jetzt sind wir eine Gruppe, wie eine Familie“, sagt einer der Mitwirkenden. Obwohl hier keine Profis auf der Bühne stehen, ist die Performance weder dilettantisch, noch langweilig. Der dramaturgische Spannungsbogen ist reißfest bis zur letzten Minute. Aufatmen nach der Vorstellung. „Wir wissen jetzt was wir können! Das sagt denen sonst keiner“, erläutert Viola Reich-Dollmann, die stellvertretende Schulleiterin das neue Lebensgefühl. Sie möchte solche Projekte an ihrer Schule fortsetzen. „Sie sehen einen glücklichen Kultur- und Schulbürgermeister“, sagt Harry Mergel nach der Premiere, sichtlich bewegt von der Leistung der Choreografin, ihrem Assistenten-Team und der Tanzamateure. Ein fulminanter Erfolg! Zumal wenn man in Betracht zieht, dass es Förderschüler aus prekären Verhältnissen im sensiblen Alter zwischen 13 und 17 Jahren sind, die eine knappe Stunde kraftvoll, konzentriert und mit viel Spaß bei der Sache sind.

Während auf der Videowand Portraits aufblenden, spurten die Jugendlichen in rascher Folge auf die Szene und stellen sich am Ende des Stückes namentlich vor. Ihre Eltern kommen aus Italien, Spanien, Polen, verschiedenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und dem Balkan, aus der Türkei, Indien und Syrien. Jetzt stehen die Kinder gemeinsam auf den Brettern, die die Welt bedeuten, über zehn Nationalitäten aus unterschiedlichsten Kulturkreisen, im Tanz vereint zu einem Vorbild friedlich kreativer Koexistenz. Die Theaterleitung hatte das Tanzprojekt im Vorfeld des Festivals für alle Heilbronner Schulen ausgeschrieben. Nur die Wilhelm-Hofmann-Schule war zu dem Experiment bereit und hat ihre Schüler von Mathe und Deutsch befreit, um stattdessen täglich von 9 bis 15 Uhr zu Tanzen, unterm Dach des Kunst- und Kulturhauses Zigarre, das den geeigneten Trainingsraum zur Verfügung stellt. „Eine Schule des Lebens“ nennt Schulleiter Hartmut Niederberger das Projekt. Beeindruckt von Raszweskis tanzpädagogischem Ansatz, ihrer „natürlichen Autorität, Kraft und ansteckenden Anmut“, mit der sie die, von Berührungsängsten geprägten Jugendlichen aus der Reserve gelockt hat, äußert er den Stolz auf seine Schüler, die nun auf „dieser honorigen Bühne“ stehen: „Mir geht das Herz auf, wenn ich sehe, wozu meine Schüler in der Lage sind“, sagt er, und betont bei allem Hochgefühl Lernziele, die bei der üblichen Wissensvermittlung zu kurz kommen, hingegen das Tanzprojekt auszeichnen: Disziplin, das Einordnen unter eine Gesamtidee, die Erfahrung, dass die Gruppe mehr kann, als der Einzelne, dass jeder besondere Qualitäten besitzt, dass Lernen Freude macht und nicht zuletzt Selbstbewusstsein.

Das Klima zwischen den Klassenstufen sowie das zwischen Lehrern und Schülern ist so gut geworden, dass alle freiwillig den Stoff in den Ferien nachholen wollen. Die Belohnung für Mühe und Einsatz: eine Einladung zu den Baden-Württembergischen Theatertagen nach Freiburg. Außerdem wurde das Stück in die Endauswahl des Wettbewerbs „Kinder zum Olymp!“, eine Bildungsinitiative der Kulturstiftung der Länder, aufgenommen.

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