Reise in die Vergangenheit

Offenbachs „Pariser Leben“: deutsch, französisch und belgisch-global

oe
Stuttgart, 17/08/2009

Ich fürchte, heute wird‘s wieder einmal nostalgisch, denn allein der Titel „La vie parisienne“ weckt automatisch Erinnerungen an ein paar der schönsten Abende meines langen Theaterlebens. Zuerst an die Felsenstein-Produktion von Offenbachs Opéra-bouffe en quatre actes (Jahrgang 1866) 1951 an der Komischen Oper Berlin (natürlich auf Deutsch). Ich war 24 und hingerissen von dem Elan, dem Esprit, und – dem „Oh, la, la!“-Französisch-Flair der Aufführung. Das war kurz nach Aufhebung der Lebensmittelzuteilung (pro Tag: 10g Zucker, 9 g Kaffeersatz – noch mit zwei e geschrieben –, 35 ccm Magermilch, 5 g Butter und 2 g Käse) – und hier war alles im Überfluss: Eleganz, Witz und joie de vivre. Außer Felsenstein kaum Namen auf dem Programmzettel, an die man sich heute noch erinnert – nur noch an den von Irmgard Arnold (damals in fast allen Produktionen des Hauses beschäftigt) als Handschuhmacherin Gabrièle – und Sabine Reß für die „Tanzleitung“ (so hieß das damals). Dreimal war ich in der Aufführung.

„La vie parisienne“ zum Zweiten: diesmal echt Französisch als Gastspiel des Theatre de France (ohne französische Akzente) im März 1964 im New York City Center. Directed by Jean-Louis Barrault (mit Barrault in der Rolle von The Brazilian – kann man sich vorstellen, was für einen Sturm der Begeisterung er mit seinem Chanson „Je sui Brésilien, j‘ai de l’or“ entfachte).

„Pariser Leben“ zum Dritten 1969 am Opernhaus Köln: Deutsch zwar, aber immerhin Inszenierung: Jean-Louis Barrault, und an ein paar weitere Namen erinnert man sich auch heute noch gern: Marek Janowski als Dirigent, Claudio Nicolai und Werner Saladin als Gardefeu und Bobinet, Carlos Feller als Gondremarck und Helga Pilarczyk als Metella. Choreografie: Roger Stefani (kennt den heute noch jemand?).

„Gaîté parisienne“ zum Vierten: 1978 von Béjarts Ballett des 20. Jahrhunderts in Brüssel, als Ballettvariante der originalen Offenbach-Version (ihrerseits eine Béjart-Kreation nach Leonide Massines Ballet in one act, uraufgeführt 1938 vom Ballet Russe de Monte Carlo in Monte Carlo), laut „Reclams Ballettführer“ „ein revueartig aufgemachtes großes Divertissement“ – laut oe: das sicher amüsanteste Ballett des Béjart-Repertoires.

„Pariser Leben“ zum Fünften: als Buffo-Oper in 5 Akten 1979 am Staatstheater Kassel – ziemlich ordinär inszeniert, wenn ich mich recht erinnere, von Edmund Gleede – nachmaligem Ballettdirektor an der Bayerischen Staatsoper.

„Gaîté parisienne“ zum Sechsten, das Béjart-Ballett 1983 als Einstudierung beim Stuttgarter Ballett, mit Marcia Haydée als Madame, Mark McClain als Bim, Uwe Scholz als Offenbach, Paul Chalmer als Ludwig II. und Birgit Keil und Vladimir Klos als Die Liebenden. oe in der „Stuttgarter Zeitung“: „Im siebenten Himmel – Nichts wie hin in diese Galavorstellung, deren tänzerischer Esprit de vie einem zu Kopfe steigt wie ein großer Dom Pérignon.“

„Pariser Leben“ zum Siebenten: 1997 an der Staatsoper Stuttgart – Dirigent Bernhard Kontarsky, Inszenierung; Alexander Lang, Dramaturgie: Sergio Morabito – kein Credit für Choreografie, nicht mal einer für die Tanzleitung. In den „Stuttgarter Nachrichten“ bescheinigt Dieter Kölmel der Aufführung „Langeweile im Großen Haus. Im tristen Vorstadt-Milieu vergeht das Lachen sehr schnell“ und Mirko Weber in der „Stuttgarter Zeitung“ titelt: „Wie man Witze verfertigt – und kaum Einer lacht“.
Dann lange nichts (wie habe ich das überlebt? Na ja, es gab immerhin gelegentliche Wiederaufnahmen der Stuttgarter Produktion).

Die „Gaîté parisienne“ zum Achten – war nur ein Ausschnitt auf der DVD der „Ballets Russes“ (kj vom 14.2.2007), doch der mit keinen Geringeren als Massine und Danilova – und der vermittelte immerhin eine Ahnung von der Begeisterung, die das Original von 1938 auslöste. Und nun also „La vie parisienne“ zum Neunten (und vorläufig letzten Mal): eine DVD bei Virgin Classics (auf 50999 5193019 6, 135 Minuten), mit dem Ensemble der Opéra national de Lyon vom Dezember 2007), Dirigent: Sébastien Rouland, Regie und Kostüme: Laurent Pelly. Bühnenbild: Chantal Thomas, Choreografie: Laura Scozzi). Ja, und hier muss man die Choreografie ausdrücklich nennen – sie ist total in die Inszenierung integriert und die Dame Scozzi ist die gleiche, die schon die Nürnberger Aufführung von Berlioz‘ „Benvenuto Cellini“ so tüchtig aufgemöbelt hat. Hier aber hat sie sich selbst übertroffen.

Das geht gleich nach dem lustigen Vorspann mit dem Pariser U-Bahnnetz los, das die Stationen der turbulenten Handlung anzeigt – mit dem tollen Getriebe auf dem Gare de l´Ouest, wo es nur so wimmelt von Ankommenden und Abfahrenden und der Chor und die Solisten hin und her gescheucht werden. Wie Scozzi sich keine Gelegenheit entgehen lässt, die Ensembles und auch die Soli kräftig aufzumischen. Und alle sprühen sie nur so von guter Laune. Vollends legt sie sich in den Übergängen zwischen den einzelnen Akten ins Zeug – mit einer irren Parade der von den Strapazen des Abends betrunkenen Gäste, die schließlich in Mülltonnen verstaut und weggekarrt werden. Und dann erst die beschwipste Tyrolienne-Walzerseligkeit und die Final-Galoppade mit „Par nous chansons et par nous cris célébrons Paris!“ Fürwahr: da kommt kein Sevilla, Firenze und kein „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft!“ heran (allenfalls „New York, New York!“). Das ist eine Operette und eine Aufnahme, die, wenn ich nur an sie denke, einen Veitstanz der Glieder bei mir auslöst!

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