Fahrradfahrer der Lüfte

Uraufführung von „Feiningers Fugen“ von Tarek Assam

Gießen, 02/03/2009

Leben und Werk von bildenden Künstlern haben schon so manchen Choreografen inspiriert, diese in einem Tanzstück darzustellen. Häufiger waren dies Vertreter des Tanztheaters. Nun hat sich auch Tarek Assam, Direktor der Tanzcompagnie des Stadttheaters Gießen, dazu entschlossen, einen Maler zu würdigen: den Deutsch-Amerikaner Lyonel Feininger, bekannt und beliebt geworden mit seinen prismatisch gebrochenen Darstellungen etwa der Dorfkirche von Gelmeroda und mit seinen Ostsee-Bildern. Bislang galt Assam als unverdächtig, Erzählballette umsetzen zu wollen. Es war auch der Bezug Feiningers zur Musik, der ihn zum Stück inspirierte. Was bereits im auf den ersten Blick erstaunenden Titel anklingt: „Feiningers Fugen“.

Bach’sche Fugen sind bekannt, eventuell auch die Beschäftigung Glenn Goulds mit dem Thema, aber Feininger und Fugen? Das kannten bislang wohl nur Experten wie Dr. Björn Egging, Direktor der Feininger-Galerie in Quedlinburg, der im Programmheft ausgiebig zu Wort kommt. Ja, Feininger hat sich intensiv damit auseinander gesetzt, sogar selbst Fugen komponiert (die in der Gießener Inszenierung allerdings nicht zu hören sind) und letztlich „Fugen gemalt“, die stete Variation eines Themas kennzeichnet seine Bilder. Feiningers Motivspektrum ist überschaubar: Kirchen, Stadtarchitekturen, Schiffe. Wie es sich beim Befassen mit einem Lebenswerk gehört, kommt auch in Assams Tanzstück der biografische rote Faden zum Einsatz. Das Stück ist eingeteilt in vier Abteilungen: Kindheit in New York, erste Erlebnisse in Deutschland (Arbeit als Karikaturist, erste und zweite Liebe), Paris und die Entdeckung des Kubismus meint auch seine Arbeit am Bauhaus, die Ostsee und die Entwicklung des eigenen Stils, den Prismaismus. Zeitgenossenschaft gibt den Panorama-Hintergrund, etwa bei den schwarzweißen Videoprojektionen von Hochhausarchitektur auf den Lamellenvorhang, der die ganze Bühne abteilt. Ein strampelnder Fahrradfahrer hoch oben in der Luft ist ein sprechendes Bild für den jungen Feininger, der 1887 als 16-Jähriger den Ozean überquert und beschließt Maler zu werden. Bei der Ankunft in Deutschland wird kein Klischee ausgelassen, ironische Zitate von Seppl- und Schwarzwaldhut, Krachlederne und Dirndl sprechen vom deutschen Gemüt. Das Künstlervolk hebt sich dagegen in existentialistisch schlichter Kleidung ab (Kostüme: Lukas Noll). Zeitgeschichte verhilft zu dramatischen Zuspitzungen, so kündigt sich der Nationalsozialismus in Form von Zeitungen an, die vielfach schweigend gelesen werden, aber auch bedrohlich knistern und mit einem denunzierenden Fingerzeig durchbohrt werden. Letztlich musste Feininger Deutschland wieder verlassen, weil seine Kunst als „entartet“ galt. Dieser Teil der Biografie wird im Tanzstück nicht mehr behandelt, es endet in Teil IV mit dem zauberischen Bühnenbild (Lukas Noll), das von den Segeln der Ostseebilder inspiriert ist. Das Durchlichtete der Bilder Feiningers wird wunderbar herausgearbeitet in den gemeinsam erarbeiteten Foto-, Grafik- und Videoprojektionen kombiniert mit raffinierten Lichteinstellungen.

Das kleine Ensemble aus sechs Tänzer und sechs Tänzerinnen präsentiert sich in ausgezeichneter Form. Den Feininger gibt Meindert Ewout Peters, der allein mit seinem langen Körper und seinen markanten Gesichtszügen aus dem Ensemble herausragt. Miranda Glikson spielt die erste Frau, die intensiv darum kämpft, ihn zu behalten, gegen die zweite Frau aber nicht ankommt, dargestellt von Magdalena Stoyanova. Ein geradezu intimes Liebesduett zwischen Peters und Stoyanova beschließt Teil II und entlässt das Publikum in die Pause. Mit seiner Choreografie bedient Tarek Assam nicht das traditionelle Verfahren, Tänzerbewegungen parallel zu den musikalischen Stimmen laufen zu lassen. Er unterläuft dieses letztlich starre System, indem er teils gegenläufig inszeniert, eigene Akzente setzt, die punktuell und oft überraschend mit der Musik zusammen treffen. Die Bewegungen sind häufig eckig und spitz, haben einen abrupten Verlauf und ahmen darin die Formenwelt des Kubismus nach. Die interessante Musikauswahl setzt sich zusammen aus dem Magnificat in D-Dur von Johann Sebastian Bach (drei Teile), den vier Shaker Loops (1977/83) und einem Violinkonzert (1993) von John Adams und dem Stück von Glenn Gould „So you want to write a fuge?“ für Chor und Orchester. Bach’sche Fugen und ihre modernen Nachfolger werden abwechselnd gespielt, geben einen akustisch (und optisch) gewollten Kontrast. Die minimalistische Musik von Adams bringt eher Atmosphäre und intime Gefühle zum Ausdruck, während Bach’sche Kompositionen auf Öffentlichkeit angelegt sind; hier haben der Chor des Stadttheaters Gießen und der Kammerchor Gießen-Wetzlar ihre grandiosen, in das Bühnenbild integrierte Auftritte. Zur musikalischem Gesamtleitung gehörte für Jan Hoffmann nicht nur das Einstudieren der Chöre, sondern auch das Dirigieren des Philharmonischen Orchesters des Stadttheaters Gießen. Eine große Anforderung, die großartig gemeistert wurde. Das begeisterte Publikum dankte mit lang anhaltendem Applaus.

Weitere Aufführungen: 15., 21, und 29. März, am 26. April und zum letzten Mal während der TanzArt ostwest am Stadttheater Gießen am 29. Mai.

Link: www.stadttheater-giessen.de

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