Alles über Palucca. Alles?

Auch „Mäxchen“ schweigt weiterhin

oe
Stuttgart, 14/04/2009

Nach Katja Erdmann-Rajski „Gret Palucca – Tanz und Zeiterfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert“ (kj vom 11.4.2001) und Ralf Stabel „Tanz, Palucca – Die Verkörperung einer Leidenschaft“ (kj vom 2.11.2001) nun also Palucca zum Dritten, nämlich Susanne Beyer: „Palucca – Die Biografie“, erschienen im Aviva-Verlag Berlin 2009, 432 Seiten, ca. 60 Abbildungen, 24,80 € ISBN 978-3-932338-35-9 – im tanznetz bereits ausführlich vorgestellt von Karin Schmidt-Feister am 26. März 2009 unter der Überschrift „Jahrhundertfrau des modernen Tanzes. Im Spannungsfeld deutsch-deutscher Geschichte.“ Die Autorin der neuen Biografie, geboren 1969, seit 1996 Kulturredakteurin beim Spiegel in Hamburg, mir bisher nicht bekannt, hat mit Spiegel-Gründlichkeit recherchiert – namentlich in dem Erdmann-Rajski und Stabel noch nicht zugänglichen Archiv der Akademie der Künste in Berlin – und dabei Hunderte von Fakten zu Tage gefördert, die die gründlich widersprüchliche Persönlichkeit Paluccas im neuen Lichte erscheinen lassen.

Beyers Anhang mit den Quellenverweisen umfasst allein dreißig engbedruckte Seiten – und zwingt die Autorin doch wiederholt zu dem Eingeständnis weiterbestehender Leerstellen in Paluccas Leben, besonders während der Nazi-Jahre, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie selbst unter dem Vorwand der Vernichtung der Originale im Sturm der Dresdner Bombennächte vom Februar 1945 zu deren Verlust beigetragen haben könnte. Denn, das macht das neue Buch hinreichend deutlich: sie war eine hervorragende Regisseurin ihrer Biografie. Auch Stabels Biografie weist einen penibel recherchierten Dokumentationsteil auf – er ist sogar noch ausführlicher als der von Beyer (fast 70 Seiten) und bietet neben dem Werkverzeichnis eine fast komplette Auflistung aller ihrer Auftritte von 1923 bis 1950 (fast: ich vermisse meine erste Begegnung mit ihr im Wintersemester 1945/46 in Kiel, wo sie einen Tanzabend in einem Kino gab), macht aber doch einen vorsichtigen Bogen um ihre erotischen Beziehungen zu Männern wie Friedrich Bienert (mit dem sie verheiratet war) und dem Kritiker Will Grohmann sowie zu Frauen wie Marianne Zwingenberg und Irmgard Schönigh, die zu ihren lebenslangen Partnerinnen wurden.

Nach den noch etwas umstandskrämerisch beschriebenen frühen Jahren (Palucca wurde 1902 geboren) läuft Bayers Buch zu großer Form auf mit ihrer Übersiedelung nach Dresden 1920 – wie denn überhaupt Dresden zum Mittelpunkt ihres bis 1993 währenden Lebens wird. Glänzend die Schilderung des Dresdner Künstlerkreises und ihrer Beziehungen zu den Bauhaus-Künstlern der zwanziger Jahre. Offener dargestellt als bisher auch ihre charakterlich und künstlerisch begründeten Gegensätze zu Mary Wigman (die gegen Ende ihrer beider Leben zu einer menschlich tief berührenden Versöhnung führen), dann die unseligen – von Palucca indessen brillant ausgereizten – Verstrickungen in die politischen Machenschaften der Nazis und ihrer DDR-Nachfolger, ihr Pendel-Tourismus zwischen Dresden, Sylt und Hiddensee, tief bewegend dann die Vereinsamung ihrer letzten Lebensjahre, die Jahrzehnte, in denen ihre Vertrauten einer nach dem anderen dahinsterben, in denen sie sich eingestehen muss, dass ihr anfangs so idealistisches Engagement für den Wiederaufbau nach dem Krieg von den Funktionären des sogenannten Sozialistischen Realismus so schändlich missbraucht wurde.

Wenn mir in Beyers Buch etwas zu kurz wegkommt, dann ist es trotz ihres Zitatenreichtums eine anschauliche Schilderung ihrer Tänze: da ist man bei Erdmann-Rajski und bei Stabel wesentlich kommunikativer bedient (bei Erdmann-Rajski zudem über die enge Verflechtung ihrer Analyse der Tänze und ihrer Technik (mitsamt der Unsystematik ihrer fehlenden pädagogischen Methodik) in die Ästhetik des ‚Zeitgeistes‘. So ist Beyers Buch trotz ihres Anspruchs, DIE Biografie „Palucca“ zu liefern letzten Endes kein „Alles über Palucca“ geworden (Stabel war da vorsichtiger: bei ihm heißt der Umschlag-Titel zwar noch „Die Biografie“, der aber auf der Innen-Titelseite des Buches lediglich zu „Biografie“ zurückgenommen erscheint). Wenn Stabel allerdings in einem seiner letzten Sätze vermutet: „Ein Zeitzeuge, der – sollte es gelingen, ihn zum Sprechen zu bringen – sicher manches Geheimnis zu lüften wüsste. Aber er schweigt, der Max … Mäxchen genannt, der letzte Mops von Palucca“, so irrt er, denn das über alles von ihr geliebte Mäxchen wurde erst in ihren letzten Erdentagen zu ihrem Lebenspartner.

Und noch etwas, was ich gern etwas ausführlicher behandelt gesehen hätte, war ihr Verhältnis zu ihrer ehemaligen Schülerin Lotte Goslar. Ich war in den siebziger und achtziger Jahren regelmäßiger Gast bei Goslar in Connecticut, aber es verging kein Besuch, bei dem wir nicht auf ihre Verbindung mit Palucca im Dresden der zwanziger Jahre zu sprechen gekommen wären. Schließlich war es Goslar, die mich Palucca empfahl, was zu einer vorsichtigen brieflichen Annäherung führte, die mich veranlasste, 1989 mit Palucca in Dresden ein Treffen zu vereinbaren (noch vor dem ominösen November jenes Jahres), zu dem ich dann auch prompt mit dem Auto (ein Stuttgarter-Zeitungs-Dienstwagen!) nach Dresden gefahren bin. Sie sagte dann leider zwei Termine ab, und ich bin frustriert nach Stuttgart zurückgekehrt und habe in der StZ die Chronik einer nicht zustande gekommenen Begegnung veröffentlicht. Beim Nachschlagen im Quellenverzeichnis habe ich dann erstaunt registriert, wie sehr sich Rolf Garske von Köln aus für Palucca eingesetzt hat. Übrigens rechne ich es Beyer hoch an, wie sie sich als Wessi-Autorin jeder hämischen Bemerkung über Paluccas Umgang mit der Nomenklatura der DDR enthält!

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