30 Jahre Tanzfabrik Berlin – 30 Jahre Contact Improvisation in Deutschland

Tasten, Suchen, Erfinden - Ein Gespräch mit Dieter Heitkamp

Berlin, 10/07/2008

Mit einem hochkarätigen Programm feiert die Tanzfabrik Berlin am 12./13 Juli den 36. Geburtstag der Contact Improvisation. Das Symposium „CI 36“ bietet für aktive Teilnehmer und Gäste vielfältige Einblicke in Praxis und Theorie dieser lebendigen, nie institutionalisierten Tanz-Art. Ein besonderer Höhepunkt ist die Lecture Performance „Schule der Sensibilität“ von Dieter Heitkamp, Tanzfabrik-Mitbegründer und Impulsgeber der deutschen Zeitgenössischen Tanz- und insbesondere der Contact-Szene.

Herr Prof. Heitkamp (Direktor des Ausbildungsbereichs Zeitgenössischer und Klassischer Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main), was macht die CI zu einer Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang?

Dieter Heitkamp: CI ist eine Form von Gesellschaftstanz, die nicht primär für die Bühne gemacht ist, aber zugleich die Partnerarbeit im zeitgenössischen Tanz wesentlich beeinflusst hat. Berühren und sich berühren lassen sind zentrale Merkmale/Aspekte.
Seit 1972 hat sich diese vielgestaltige Erforschung im Spiel mit Körperkontakt und physikalischen Kräften, ausgehend von ersten Versuchsanordnungen ihres Begründers Steve Paxton in Amerika, inzwischen weltweit artikuliert. Das aufkeimende Interesse an neuen Körper- und Meditationstechniken, die Frauenbewegung, Formen des Gesellschaftstanzes und kollektive Lebensformen waren Wegbereiter für kollektive Arbeiten wie die der Kontaktimprovisation.

Das Erleben einer offenen Bewegungsform, in der ich mich voll wiederfinden konnte und bis heute Neues entdecke, fasziniert mich. Grundsätzlich kann ich sagen, dass ein Reiz darin besteht, durch die Partnerarbeit in Situationen zu gelangen, in die man alleine nur schwer oder mit Hilfsmitteln gelangen kann. Mehr Off Balance zu sein, wenn der Schwerpunkt nicht über der Standfläche ist. Durch körperliche/physische Begegnungen im Tanz erweitert sich nicht nur das Wissen über Contact sondern über Bewegung generell.
Keiner hat dieses Wissen gepachtet, sondern es soll allen zugänglich sein. Es ging nie darum einen festen Kanon zu entwickeln, der womöglich durch Einzelne bestimmt wird, sondern viele tragen mit ihren Erfahrungen dazu bei, dass dieser Wissenspool ständig wächst. Gemeinsam mit den Tänzern Norbert Pape und Tinu Hettich unternehme ich nun den Versuch, auf www.contact-improvisation.net diese sehr unterschiedlichen Sichtweisen und Entwicklungen zu dokumentieren und zu vernetzen.

Die Contact Comunity ist breit gefächert. Ich finde es erstaunlich, wie sich diese Tanzform auf viele Länder und Kulturen ausgeweitet hat und immer neue Bevölkerungskreise (Contact mit Menschen mit Beeinträchtigung, Kleinkindern, Senioren) interessiert. In Deutschland konnte man CI zum ersten Mal 1978 in der Tanzfabrik Berlin erleben, dann auch in Bewegungszentren in Düsseldorf, Münster, Freiburg, Potsdam und vielen weiteren Städten. Mittlerweile hat sich die deutsche Contact-Szene zur größten in Europa entwickelt, aber auch in Israel, Russland oder Japan schreitet die Entwicklung schnell voran. Eine Form der Praxis sind Contact Jams (von mehreren Stunden bis zu 2 Wochen inklusive gemeinsam Kochen, Essen, Aufführen, Diskutieren), auf denen Menschen, deren Alter meistens zwischen 25 und 60 liegt, neue Erfahrungen und Begegnungen im Tanz mit anderen, oft bis dahin fremden Menschen suchen. Sie treten in Kontakt mit Neugierde und Bewegungslust, mit Verantwortung für sich selbst und Respekt für die anderen. Sie schaffen Orte im öffentlichen Raum, an denen ein anderer Umgang mit Berührung und sich berühren lassen möglich wird, der nicht unbedingt gesellschaftlichen Normen entspricht.

Ihre erste Lecture war „Assistierte Schwebezustände“. Der Rolle der Haut bei der Kommunikation haben Sie in der faszinierenden „Hautsache Bewegung“ (2006) nachgespürt. Welche Intentionen verfolgen Sie in Ihrer 3. Tanz-Vorlesung „Schule der Sensibilität?

Dieter Heitkamp: Performer und betrachtende Zuhörer sind immer auf mehreren Ebenen aktiv. Wir stellen Kontakte her zwischen Bildender Kunst, Physik, Biologie und Tanz. Verbindungen zwischen Bewegungskonzepten und künstlerisch pädagogischer Arbeit. Wir versuchen Parallelen im Denken aufzuzeigen zwischen Steve Paxton und dem Bauhauskünstler Paul Klee, zwischen Grundelementen der Contact Improvisation und den im Pädagogischen Skizzenbuch von 1925 formulierten Konzepten zu Punkt, Linie, Fläche und Raumkörper. Ein räumliches Verhältnis zwischen Menschen kann zugleich ein soziales oder hierarchisches Verhältnis ausdrücken. Der Bewegungs- und Tastsinn und die Wahrnehmung über die Haut werden besonders gefördert beim Tanzen mit verbundenen Augen und durch bewusstes Stören des Hörsinns (Ohropax). Wahrscheinlich bin ich haptophil, denn mich beschäftigt die Vervielfältigung und Verschiebung von sinnlichen Wahrnehmungsformen durch die Betonung taktiler Aspekte – Tasten, Suchen und Erfinden.
www.contact-improvisation.net www.tanzfabrik-berlin.de

 

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