Den Butoh-Tanz erklärt der Kontext

Doris Dörries großartige „Kirschblüten“-Schau

München, 18/02/2008

„Wie soll ich denn leben ohne ihn?“ Bayerisch gefärbt, kleinbürgerlich und mit demütiger Entsagung nimmt Trudi die Diagnose entgegen, dass Rudi, ihr Mann, nur noch kurze Zeit zu leben hat. Mit ihm lernen wir seine Routine kennen: die Fahrt ins Kreisverwaltungsreferat von Weilheim mit der abendlichen Heimkehr aufs Land in ein Haus mit Blumen, Scheunenwand und Katzen. Das wirkt nicht nur rein optisch schon fast japanischer als Japan.

Durch die gänzlich uneitle Schauspielkunst von Elmar Wepper und Hannelore Elsner werden wir Zeugen unspektakulärer Zweisamkeit in einem unprätentiösen Alltagsleben, erleben Trudis Fürsorge und Nachdenklichkeit sowie bereits die Stille im Wissen um den nahen Tod. Sich auf die bewegende Story einzulassen, die Doris Dörrie erzählt, lohnt sich: Was ist mit der Rudi verbleibenden Zeit zu tun? Trudi, die ihm nichts von seinem Zustand sagt, drängt zum Besuch der Kinder in Berlin. Bei Klaus (Felix Eitner) wohnen sie, bei Karolin (Birgit Minichmayr) sind sie zum Tee. Beide sind ihren Eltern entfremdet und finden kaum Zeit für sie. Eine Stadtrundfahrt, bei der die beiden von Karolins Lebensgefährtin Franzi (Nadja Uhl) begleitet werden, scheint eher aus Verlegenheit verlockend, doch: Mama will zum Butoh-Tanz!

Die Natürlichkeit des Films, wenn Rudi der Teilnahme an ihrer Begeisterung sein Bier vorzieht oder Klaus und Karolin Ressentiments gegen ihre Eltern tauschen, berührt. Und auch die Dialoge sitzen, so z. B. wenn Trudi resümiert: „Ich erinnere mich genau, wie sie als Kinder waren, doch als Erwachsene weiß ich nicht mehr, wer sie sind. (...) Die Ostsee wär nicht weit.“ – Eindrucksvoll auch, wie der Schnitt die Filmerzählung komprimiert: Plötzlich sieht man Tadashi Endo, weiß geschminkt, in seinem Kostüm wie eine Frau in Rot. Im Publikum sitzen Trudi und Franzi, Rudi wartet draußen. Der Butoh-Tänzer, nun bis auf einen weißen Schurz entblößt, evoziert mit impulsiven Reflexen und sehnsüchtiger Dehnung menschlichen Lebensschmerz, und Trudi zeigt Tränen der Rührung.

An der Ostsee bemerkt Rudi trocken: „Das Meer ist auch nicht mehr, was es mal war!“ Er will nichts anderes als seinen Alltag, sie aber tanzt innerlich; und in der Nacht, als beide nicht schlafen können, auch mit ihm. Ihre langsamen Bewegungen sehen aus wie Butoh-Tanz und scheinen auch sein Inneres zu bewegen. Morgens am Strand sagt sie: „Lass uns heimfahren! Wir haben uns, das ist das größte Glück.“ Wir sehen, wie Trudi in der Nacht träumt, sie sei eine Butoh-Tänzerin, die weiß geschminkt ihrer Sehnsucht nachgeht. Das ist das letzte Bild von ihr, denn nicht Rudi, sondern sie stirbt unerwartet diese Nacht.

Während der Totenfeier, zu der auch der sonst in Japan lebende Sohn Karli da ist, fragen die „Trauernden“ angesichts ihres verloren wirkenden Vaters beinahe unwirsch: „Was sollen wir denn jetzt machen mit ihm?“ Im Kontrast zu den vorigen Bildern unterstreicht der Blick auf diese hastenden Hinterbliebenen: Der Butoh-Tanz ist Ausdruck existenzialer Sehnsüchte, die für Alltagsmenschen erst in Todesnähe fühlbar werden. Rudi fühlt nun. Doch Karli, Klaus und Karolin können nicht einmal zur Urnenbeisetzung zu Hause sein. Nur Franzi kommt, sagt über Trudi: „Vielleicht war da noch eine andere Frau in ihr, die keiner gesehen hat“, und lässt Rudi erkennen, dass Trudi glücklich mit ihm war, doch dafür auf ihre Träume verzichtete. „Sie wollte eine gute Butoh-Tänzerin werden.“ Rudi umarmt sie zum Abschied, dann ruht die Kamera auf einer Katze. Zeit, sie zu betrachten, Zeit – dieses Zeichen setzt der Film mit dieser Kleinigkeit – braucht das Leben auch, damit es zu sich selbst kommt, oder, in der Sprache des Idealismus, damit „das Leben sich empfindet“. Rudi blättert in Trudis Büchern. Eins heißt: „100 Views of Fuji“.

In Tokio holt Karli seinen Vater vom Flugplatz ab. In seinem kleinen Apartment findet Rudi japanisierende Gedichte Trudis an den Sohn und weint. Nach langem Warten auf Karli, der noch immer arbeitet, stolpert er ins Nachtleben. Kurz zeigt der Film das moderne Japan in seiner globalen Banalität, zeigt real, nicht denunzierend, dass dort die Kultur wie bei uns verfällt. Doch läuft im Fernsehen Butoh. Rudi schaut interessiert zu, zieht Trudis Strickjacke an, betrachtet sich im Spiegel. Im Park, wo Karli wie alle anderen mit seinen Freunden die Tage der Kirschblüte feiert, öffnet Rudi unter den blühenden Zweigen seinen Mantel, unter dem er ihre Jacke trägt: „Da, Trudi, das ist für dich!“

Für eine Fahrt zum Berg Fuji, den zu sehen sich Trudi sehnte, hat Karli keine Zeit. Also geht Rudi spazieren, besichtigt einen Friedhof, sieht Frauen malen, zieht vor einer Tänzerin den Hut. Zuhause hört er, unbemerkt von Karli, wie der am Telefon darüber klagt, dass Vater ihm langsam auf die Nerven gehe. So ist der Aufenthalt, der ihm für sein Interesse an der jungen Butoh-Tänzerin bleibt, zeitlich begrenzt. Doch bei ihr werden des alten Witwers Augen wieder lebendig. Yu (Aya Irizuki), die mit einem Telefonhörer tanzt, lehrt ihn den Tanz der Schatten: „Jeder kann tanzen, denn jeder hat einen Schatten. Ich tanze mit einer Toten. Ich bin am Telefon mit meiner Mutter. Sie ist in mir. You find the shadow!“ Einfühlsam zeigt der Film, dass zwischen Yu und Rudi, die sich kaum verstehen, Gefühl etwas ist, was besser noch als Worte trägt. Eines Tages geht Rudi Yu nach, sieht, dass sie in einem Zelt unter Obdachlosen wohnt, und nimmt sie mit zu Karli. Der reagiert verständnislos, Rudi verabschiedet sich von dem Schlafenden.

Mit Yu bricht er zum Fuji auf. Tagelang warten sie am Ufer des vorgelagerten Sees darauf, dass der heilige Berg aus den Wolken schaut. Rudi wird krank, Yu pflegt ihn liebevoll. In der folgenden Nacht sieht er den Fuji, beginnt sich zu schminken. In Trudis Kleidern geht er ans Ufer und beginnt zu tanzen. Er findet sie, und in der Butoh-Bildersprache des Films ist es nur konsequent, dass dies ein Duett Elmar Weppers mit Hannelore Elsner wird. Es ist sein letzter Tanz, denn er kann Trudi i(n ihre)m Sterben nicht halten.

Bis zum Ritual am Ende hält der Film aus der mittanzenden Kamera von Hanno Lenz sein großartiges Format. Er ist tief eingedrungen in einen anderen Kulturkreis und zeigt mit diesem Eindringen unserer Gesellschaft eigene Lebens-Defizite auf. Eine „Bären“-starke Arbeit von Doris Dörrie und ihrem Team! Dass die Jury der Berlinale diesen wunderbaren Film leer ausgehen ließ, unterstreicht, wie wenig Sensibilität für grundlegende Mitteilungen ans Leben auch im Kulturbetrieb verbreitet ist.


„Kirschblüten. Hanami“: Kinostart am 6. März 2008

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