Alain Platels eindrucksvolle Tanz-Kreation „pitié!“ bei der RuhrTriennale uraufgeführt

Streetdance und Comboklänge auf Bachs „Erbarme dich, mein Gott!“

Bochum, 04/09/2008

Zum dritten Mal schockiert, verwirrt, berührt und beeindruckt Alain Platel mit einer eigens für die „RuhrTriennale“ geschaffenen „Kreation“ das Publikum. Bei der mit größter Spannung erwarteten Uraufführung von „pitié! Erbarme dich!“ war die Bochumer Jahrhunderthalle bis auf den letzten Platz gefüllt. Um das Stück begreifen zu können, sollte der Zuschauer tunlichst deren marktschreierisch vereinnahmte „Inspirationsquelle“ vergessen, Bachs „Matthäus-Passion“. Völlig anders als John Neumeier in seinem bis heute aufgeführten Ballett auf die Passionsmusik und auch als Andrew Lloyd Webber in seinem Musical „Jesus Christ Superstar“ bezieht sich Platel nur am Rande auf Christi Leiden und Tod. Nur sporadisch auch flackert Bachs Musik mit Zitaten und Passagen in der Komposition von Fabrizio Cassol auf.

Das zweistündige, überbordend vitale Welttheater kreist um die Alt-Arie „Erbarme dich, mein Gott“. Platels Grundgedanke, die Qual einer Mutter angesichts des freiwilligen Opfertodes ihres Sohnes um der Nächstenliebe willen zu zeigen, geht in diesem multikulturellen Welttheater unter. Platel bezieht sich eher missverständlich auf den Sechszeiler von Bachs Texter Christian Friedrich Henrici: „Erbarme dich, mein Gott, um meiner Zähren willen. Schaue hier, Herz und Auge weint vor dir bitterlich. Erbarme dich!“ Hier klagt keineswegs Jesu Mutter – die in dem Oratorium gar nicht vorkommt – sondern Petrus, der tief bereut, Jesus als Gottes Sohn verleugnet zu haben. Ebenso heikel mutet das Schlussensemble auf den Schlusschor des Oratoriums an: „Wir setzen uns mit Tränen nieder...“. Der Text endet zwar mit den Worten „Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein“, spricht aber von Gott ergebener Todesbereitschaft und befremdet als wilder Freudentanz.

Bei allem Respekt für Platels langjährige Auseinandersetzung mit sakraler Musik: Hier steht der barocke Titan eher im Weg. Immer klarer hat sich offenbar im Entstehungsprozess mit dem gesamten Ensemble Platels flapsige Maxime „Leute, liebt euch!“ durchgesetzt. Drastische Beispiele für Eigenliebe – bis hin zu exzessiv vollführter sexueller Selbstbefriedigung – und physische Quälerei durch Hautzwicken, Anrempeln, auf den Bauch Klatschen lenken von zärtlichen Umarmungen ab. Die Pietà-Posen wirken wie Zugeständnisse an die ursprüngliche Idee. Alltag steht neben religiösen Ritualen: Selbstbezichtigungen an der „Klagemauer“, der Ruf des Muezzin auf einem Holzturm (grandios: Magic Malik!). Die drei Gesangssolisten, die sich immer wieder Fragmente der Arie zuspielen – Mutter, Sohn und Tochter – sitzen an einem einfachen Tisch. Der Sohn (der kongolesische Countertenor und Tänzer Serge Kakudji) trägt ein billiges gelbes Shirt mit Jesus-Konterfei auf Brust und Rücken. Die Mutter (die amerikanische Sopranistin Claron McFadden) gibt sich verhalten, distanziert – dynamisch, jung dagegen die Tochter (die Italienerin Cristina Zavalloni). Auf einem grob gezimmerten Holzpodest musiziert Fabrizio Cassols famoses Orchester „Aka Moon“ in einer reizvollen Zusammensetzung aus Kammerorchester und Jazz-Combo. Grandios tanzt Platels „les ballets C de la B“ dessen „Bastarddance“ zwischen Streetdance und Verkrampfungen schwerst behinderter Menschen.

www.ruhrtriennale.de / www.lesballetscdela.be

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