Bitterer Zynismus? Missbrauch von Kindern?

„enfant“ von Boris Charmatz auf der Ruhrtriennale

Bochum, 19/08/2012

Die erste Tanzpremiere der diesjährigen Ruhrtriennale löst sehr zwiespältige Gefühle aus: In „enfant“ (Kind) spinnt Boris Charmatz, Direktor des Musée de la danse in Rennes, seine Serie von Choreografien mit Maschinen und mit Kindern weiter. Aus Sicht mancher Zuschauer der Deutschlandpremiere in der Turbinenhalle des einstigen Stahlwerks Bochum geht er zu weit. Denn hier müssen kleine Kinder (viele offenbar noch im Vorschulalter) Grausamkeiten über sich ergehen lassen, die ihre Unbefangenheit verletzen. Bei aller Bewunderung für die Disziplin, mit der sie sich mit geschlossenen Augen und völlig schlaffen Gliedmaßen wie Stoffpuppen fast eine Viertelstunde von den neun Tänzerinnen und Tänzern herumtragen, schleifen, verbiegen, (nicht eben zärtlich) umarmen lassen müssen – das grenzt, fanden manche Zuschauer offensichtlich, an Kindesmissbrauch. „Aufhören!“ schrie schließlich ein entnervter Vater, der Minuten später das Auditorium mit seiner kleinen Tochter verließ – wie vor und nach ihm andere Besucher auch.

Ist es bitterer Zynismus, mit dem Charmatz unseren Umgang mit Kindern anprangert? Sind die Winzlinge etwa „nur“ Vehikel für seine These von der Tyrannei der Maschine über den Menschen und vom heutigen Menschen als Maschine? Zu Beginn der beklemmenden einstündigen Choreografie sind auf dem Bühnenpodest im Halbdunkel drei schwarze Gestalten, hingeworfen wie achtlos entsorgter Müll, auszumachen. Man befindet sich augenscheinlich auf einem Fabrikgelände mit einem Kran, einer Art steilem Rollband und einer Rüttelfläche. Einem behäbigen Kraken gleich setzt sich der ferngesteuerte Arm des Krans in Bewegung, greift sich nach und nach die drei Menschen, lässt sie baumeln, fallen, setzt sie auf dem Fließband ab, von wo sie irgendwann auf der Rüttelfläche landen und wie Mehlsäcke zusammengestaucht werden.

Hinter dem Rollband betreten Menschen in Schwarz den Raum. In den Armen oder auf dem Rücken tragen sie Kinder. Manche schleifen eins hinter sich her, bleich und leblos wie Leichen. Makabre Rituale – mechanisch, selten mit einem Hauch Zärtlichkeit – werden von leisem Summen untermalt. Irgendwann entsteht ein vielstimmiger, harmonischer Chor daraus – ein trügerischer Hoffnungsschimmer, allzu bald verflogen. Die Kinder erwachen aus ihrer lethargischen Starre, summen mit, stehen auf, bemächtigen sich aber alsbald der erschöpft am Boden liegenden Erwachsenen, turnen auf ihnen herum, legen deren schlaffe Gliedmaßen so, wie die es mit ihnen zuvor taten. Das plärrende Ostinato eines Dudelsacks übertönt den Gesang. Eine bedrohliche Schwere lastet über der wild rennenden, hüpfenden kleinen Meute, die immer zahlreicher wird, bis es 17 Kids sind, und den neun halb entkleideten, ausgepowerten Frauen und Männern. Aber die Spiele der so unschuldsvoll wirkenden Energiebündel entbehren jeder Fröhlichkeit. Auch der Marsch hinter dem dudelnden Kinderfänger her hat etwas Trauermarsch-Schauerliches. Vom Arm des Krans baumelt schließlich kopfüber der Dudelsackpfeifer. Abrupt endet der danse macabre.
 

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