Ungereimtheiten

Über einige journalistische Fehlentwicklungen

oe
Stuttgart, 05/01/2007

Kann man sich das vorstellen: das Moskauer Bolschoi-Ballett gastiert in London und keine der großen englischen Zeitungen à la „Times“, „Financial Times“, „Independent“ oder „Guardian“ berichtet darüber? Auch wenn man Baden-Baden schwerlich mit London vergleichen kann, so berührt doch eigenartig, dass keine unserer großen überregionalen Tageszeitungen über das weihnachtliche Gastspiel des Bolschoi-Balletts in Baden-Baden mit „Schwanensee“, „Don Quixote“ und „Cinderella“ in sieben Vorstellungen auch nur eine Zeile veröffentlicht hat. Und das, obwohl die Kompanie seit etwa zehn Jahren nicht mehr in Deutschland aufgetreten ist. Und das obwohl mit „Cinderella“ von Yuri Possokhov eine ihrer neuesten Produktionen von einem der meistdiskutierten jüngeren russischen Choreografen auf dem Programm stand.

Stattdessen berichtete die Zeitung, hinter der angeblich ein kluger Kopf steckt, in jenen Tagen ausführlich über einen Newcomer, der in Genf eine „Coppélia“ herausgebracht hat. Aber dann ist die Tanzberichterstattung in jener Zeitung überhaupt schwer nachvollziehbar. Sie als unausgewogen zu bezeichnen, ist noch gelinde ausgedrückt – dass sie quasi von einer einzigen Kritikerin praktiziert wird, mutet geradezu grotesk an, nachdem auf dem musikalischen Sektor mehr als ein Dutzend Autoren, Redakteure und freie Mitarbeiter regelmäßig zu Worte kommen. So bleibt die Auswahl der für berichtenswert gehaltenen Ereignisse und ihre kritische Bewertung einer einzigen Persönlichkeit überlassen – was auf den Gebieten nicht nur der Musik, sondern auch des Schauspiels, des Films, der Literatur und der Bildenden Kunst einen Proteststurm der Leser herausfordern würde. Da kann das Stuttgarter Ballett zwei abendfüllende Uraufführungen vom prominentesten italienischen Choreografen und vom kreativsten (und bereits international gehandelten) deutschen Nachwuchschoreografen herausbringen – wenn es der Dame, die doch die klugen Köpfe bedient, nicht passt, handelt es sich eben um ein Non-Event.

Auch wenn jeder als Kritiker tätige Journalist zugeben wird, seine persönlichen Favoriten oder Aversionen zu haben, so sollte doch die Redaktion auf eine halbwegs ausgewogene Berichterstattung Wert legen. Und gerade weil das Missverhältnis zwischen der Vielzahl der Ereignisse und dem zur Verfügung stehenden Feuilleton-Raum immer bedrohlicher wird, käme es auf ein besonders sorgsames Abwägen der Informationen an. Ist eine Premiere des Nürnberger Tanztheaters wichtiger oder die neue Produktion der Freiburg-Heidelberger pvc-Kompanie? Die Produzenten werden darüber ihre eigene Meinung haben, aber die Leser der Tageszeitungen und Fachzeitschriften haben einen Anspruch darauf, entsprechend informiert zu werden. Und da scheint mir bei uns einiges im Argen zu liegen.

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