Intime Dialoge

Renate Kletts Interviewband „Nahaufnahme: Alain Platel”

Berlin, 10/09/2007

Alain Platel ist ein absoluter Sonderfall unter den Choreografen unserer Zeit. Obwohl er keine Technik oder Körpersprache im strengen Sinne geschaffen hat, gehören die Stücke, die er mit dem Kollektiv der Ballets C. de la B. entwickelt hat, zu den berührendsten und einflussreichsten Bühnenwerken der letzten 25 Jahre. So wären die Arbeiten von Constanza Macras oder auch dem ehemaligen C. de la B.-Mitglied Sidi Larbi Cherkaoui ohne das Vorbild Platel überhaupt nicht denkbar.

Das Markenzeichen des Flamen ist die einzigartige Verbindung von Gosse und Olymp, die Fähigkeit, authentische Figuren auf die Bühne zu bringen und sie ohne jeden Kitsch echte Gefühle zeigen zu lassen. Sein Geheimnis ist es, nicht von einer vorgegebenen Stückidee auszugehen, sondern seine Arbeiten erst aus und mit den persönlichen Geschichten und Wünschen seiner Akteure zu entwickeln und dabei jeder der oft zwiespältigen Bühnengestalten eine einzigartige Würde zu verleihen, die sich jeder Wertung entzieht.

Dass Alain Platel nicht nur ein brillanter Regisseur und Sondierer der menschlichen Seele ist, sondern auch ein äußerst sensibler Mann mittleren Alters, dem jede ungerechtfertigte Kritik wehtut und für den die Kunst ein Weg ist, kreativ mit dem eigenen Lebenspessimismus umzugehen, lässt sich in Renate Kletts wundervollem Interviewbuch „Nahaufnahme: Alain Platel” nachlesen, das soeben im Berliner Alexander Verlag erschienen ist. In fünf intimen Gespräch zwischen Dezember 2005 und Dezember 2006, die die Entstehung von Platels letztem und für ihn wichtigsten großen Stück „vsprs” einrahmen, lässt die Journalistin den Choreografen ein Bild seines Lebens, seiner Einflüsse und seiner persönlichen Dämonen entwerfen, das selbst für Leser interessant ist, die noch nie ein Stück von Platel gesehen haben. Oft wirken die Interviews mehr wie die Dialoge zweier Freunde, die bei einem Glas Rotwein über alte Zeiten und das Leben an sich philosophieren. Zwischen Einblicken in die gruppendynamischen Probenprozesse und Anekdoten über das Tourneeleben spricht Platel, behutsam immer wieder von seiner Gesprächspartnerin angestoßen, über seine Familie, seine Ausbildung als Heilpädagoge und die frühe religiöse Prägung durch den Besuch einer katholischen Schule. Obwohl er heute kein religiöser Mensch mehr ist, hat er sich einen tiefen Respekt vor dem Glauben erhalten und gesteht ein, dass auch seine Stücke einen zutiefst religiösen oder rituellen Charakter haben, der in der spirituellen Ekstase von „vsprs” seinen Höhepunkt erreicht. Menschliche Beziehungen, der Glaube und der allgegenwärtige Tod sind die Eckpfeiler zwischen denen er eine oft extreme aber immer zutiefst anrührende Feier des Lebens zelebriert.

Besonders beeindruckt in dem Buch die persönliche fast naive Hingabe des Regisseurs, der oft selbst am meisten von den Leistungen seiner Akteure berührt ist. All die intensiven Momente auf der Bühne sind für ihn keine zynischen Provokationen oder Manipulationen des Zuschauers, sondern Einladungen, einen Blick auf das Leben selbst zu werfen.

Renate Klett, die Platels Schaffen über Jahre hinweg begleitet und einfühlsam kommentiert hat, ist in diesem Buch mehr gelungen als nur eine Einführung in das Werk eines Choreografen. Sie lässt den Leser einen Blick auf einen Menschen werfen, dessen dringendstes Bedürfnis es ist, mit anderen zu teilen, gemeinsam mit ihnen zu erleben und in einer scheinbar sinnlosen Welt so etwas wie Hoffnung zu finden. Und dies ist im gegenwärtigen Theaterbetrieb wahrlich eine Ausnahme.

 

Klett, Renate (Hrsg.), Alain Platel, Nahaufnahme: Alain Platel – Gespräche mit Renate Klett, 174 Seiten, Alexander Verlag, Berlin 2007, ISBN: 978-3-89581-175-3, 12,90 Euro

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