Mobile Gefüge – Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im 19. Jahrhundert

Zu Aspekten des Performativen, Theatralen, Pädagogischen, Medialen und Rhetorischen im 19. Jahrhundert

Berlin, 23/08/2007

Der abweisend graue Einband sollte Studierende und Kunstinteressierte nicht davon abhalten in dieser aussagekräftigen Materialsammlung zu lesen. Die umfangreiche Publikation dokumentiert eine Ringvorlesung und mehrteilige Labore im Wintersemester 2005/06 als interdisziplinärer Wissenstransfer an der Paris-Lodron-Universität Salzburg und Universität Mozarteum Salzburg. Darstellende Kultur- und Kunstpraktiken des 19. Jahrhunderts standen im Mittelpunkt dieses Theorie-Praxis-Projekts. Ausgangspunkt für das inhaltliche Konzept ist die These, durch die Kraft der Tanzwissenschaft zu einer möglichen Refiguration des primär oppositionellen Modells von Wissenschaft und Kunst als ein mobiles Gefüge zu gelangen.

„Die Beiträge der AutorInnen verdeutlichen die methodische Herausforderung, sich in der heutigen Wissenschaft mit den Künsten des 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzen“, betonen Nicole Haitzinger und Claudia Jeschke. Hierbei geht es um Annäherungen an das Körper-Gedächtnis in verbalen und ikonographischen Vorlagen (Poesie, Bilder, Traktate) aus dem 19. Jahrhundert. Claudia Jeschke widmet sich in einem Labor dem undatierten Musterbuch des Ballettmeisters Franz Opfermann 1825-1908, dessen Tanzillustrationen interagierende Tänzerinnen und Tänzer als „Versatzstücke von motorischem und kinetischem Tanzwissen“ speichern. Es galt dem verborgenen Wissen („tacit knowledge“) vom Tanzen in diesen Bewegungsikons nachzuspüren. Jeschke untersucht die Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit („pictorial turn“). Die revolutionäre Veränderung der Zentralperspektive glich einer grundsätzlichen Veränderung der Wahrnehmung durch Produzenten und Rezipienten.

Die Bewegungstheorie des Franzosen F. Delsarte (1811-1871) fußt in der Erkenntnis, dass Psyche und Körperbewegungen einander entsprechen, dass Außen und Innen in bestimmten Zeichen zu erfassen sind. Am Beispiel der Tänzerin Isadora Duncan und der Schauspielerin Eleonora Duse macht die Autorin klar, dass „im Bereich des Theaters ´pictoral turn´ und ´performative turn´ nicht unabhängig voneinander gedacht werden können.“ Im darstellerischen Prozess suchten diese Künstler durch Segmentierung von Körper und Bewegungen im Körperausdruck neu nach einem sinnfälligen Bezug zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt.

Claudia Heu/Axel Fussi widmen sich in ihrer gegenständlichen Laborarbeit der assoziativen Bildwahrnehmung. Hanna Wallinger und Layne A. Longfellow verweisen in ihren jeweils sehr engagierten Plädoyers auf die nachwirkende emotionale Kraft der Poesie von Henry Wadsworth Longfellow, dem „Scholarly Poet of the Heart“, der sie einen Zeit/Sprung „in our modern fast-moving over technological world“ (S. 51) prophezeien.

Sibylle Dahms fokussiert in ihrem mit Bezug auf die literarischen wie dramaturgischen Aspekte streitbaren Beitrag die neue künstlerische Sprache des Romantischen Balletts, der „Traumfabrik des 19. Jahrhunderts“ (S. 103). Sie konstatiert: die „Verlagerung der Ausdruckssphäre vom Oberkörper auf die Beine, es ist nicht mehr die Mimik, die Pantomimik, wie sie von den Ballettreformern des 18. Jahrhunderts propagiert wurde, oder anders gesagt, der Umweg über Schauspieltechniken“ (S. 101). „Dass es gerade in den Sternstunden des Romantischen Balletts erstmals zu einer vollen Übereinstimmung von Handlungsintention und Bewegungsmotivation, zu einem harmonischen Ineinander von Gestisch-Mimischem und genuinem Tanz kommen konnte“ (S. 105), so die Autorin, machte ihn zu einem Novum in der abendländischen Tanzgeschichte. Interessante Perspektivwechsel erweitern das Wissensspektrum. So veranschaulicht Andrea Gottdang die starke Beeinflussung der zeitgenössischen Malerei um 1850 (Philipp Otto Runge, Moritz von Schwind, Ludwig Richter u.a.) durch die Instrumentalmusik Ludwig van Beethovens. Der Beitrag von Marion Linhardt untersucht das Schauspiel zentrierte Selbstverständnis der deutschsprachigen Theaterwissenschaft und ermuntert alternativ: „Zu einer völligen Neudeutung des 19. Jahrhunderts würde eine Theaterwissenschaft finden, welche die Entwicklungen etwa im Bereich der Oper und des Balletts zu denjenigen im Bereich des Schauspiels in Beziehung setzen würde“ (S. 113). Die Autorin konzentriert sich auf die Entstehung der künstlerischen Regie und auf die Herausbildung eines historisch orientierten breiten Repertoires sowie auf die bühnenpraktische Arbeit mit performativen Stereotypen/Rollenfächer. Ausgehend vom Bühnentanz des 19. Jahrhunderts (z.B. Abbildungen von solistischen Konfigurationen, Gruppendarstellungen mit und ohne Tanzgerät sowie Apotheosen-Stellungen) plädiert Gunhild Oberzaucher-Schüller für eine ernsthafte Untersuchung der Stereotypen als Strukturelemente des Theaters, von denen aus auch das Theater des 19. Jahrhunderts zu beschreiben wäre.

Wie die Völkerschauen um die Jahrhundertwende den bis in die Gegenwart relevanten Diskurs um Schaulust versus Schauwert belebten, verdeutlicht der Beitrag von Christopher Balme. Ebenfalls aus dem Blickwinkel gegenwärtiger Fragestellungen hinterfragt die Musikpädagogin Michaela Schwarzbauer die Gestalt des exzentrischen Kapellmeisters Kreisler (bei E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann) in Hinblick auf seine poetische Kraft zur Identitätssuche Heranwachsender des 21. Jahrhunderts. Renate Prochnow erläutert in ihrem spannend und detailreich zu lesenden Diskurs die beiden „obszönen“ Maja-Bilder von Goya in ihrem historischen Kontext, um dann das Goyabild der Forschung mit dem literarischen Legendenbild im gleichnishaft verstandenen historischen Roman „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“ von Lion Feuchtwanger zu vergleichen. Ihr Vortrag verdeutlicht am Beispiel „Goya – Lion Feuchtwanger“ wie unreflektierte Übernahme vorgefundener Urteile/Klischees eigenes Denken ersetzt und so die weiterführende Kraft des Mythos stärkt. Sabine Coelsch-Foiser untersucht den Mona Lisa Kult in der spätviktorianischen Kunstbetrachtung. Der von John Ruskins verworfene und von Walter Pater favorisierte literaturkritische Terminus „pathetic fallacy“ (die Projektion menschlicher Eigenschaften bzw. gedanklicher Assoziationen auf einen Gegenstand) – ließ sich auf den Vorgang der Bildbetrachtung übertragen. „Das Kunstwerk wird zum Spiegel des Betrachters, zum Gegenstand ästhetischer Manipulation“ (S. 238). In der poetisierenden Kunstbetrachtung rückt – das ist neu – das subjektive Verhältnis zwischen Zuschauer (Leser, Zuhörer) und Kunst an die Stelle wissenschaftlicher Reflexion. „Leonardo wurde zum Inbegriff eines vita nuova und damit zur Leitfigur einer Epoche, in der Wirklichkeit und Kunst immer weiter auseinanderklafften, und die Kunst zunehmend zwischen Weltflucht und sozialem Realismus gespalten war“(S. 240). „Keine Epoche hat eindrucksvoller gezeigt, wie ein Kunstwerk in eine neue Beziehung zu dieser Epoche gesetzt wird, was nichts Anderes heißt als neu ´erfunden´ wird, und wie es selbst zum anachronistischen Träger – zum Symbol – eines Zeitgeistes und einer Ästhetik wird“ (S. 254).

Die hier publizierte Ringvorlesung lädt ein, sich in der Vielzahl der methodischen Annäherungen mit den spannenden Transfers zwischen Kunst und Wissenschaft im 19. Jahrhundert mit Blick auf ihre Gegenwärtigkeit auseinanderzusetzen.

Anmerkung: Die Powerpoint-Präsentation zur Geschichte der kulturellen Systeme Kunst und Wissenschaft von Wilfred Wieden und diverse Bild-Dateien sowie praktische Einblicke in die Labore sind per Mac + PC betrachtbar. Leider fehlen Angaben zu den Autorinnen und Autoren.

 

Zeit/Sprünge, Zu Aspekten des Performativen, Theatralen, Pädagogischen, Medialen und Rhetorischen im 19. Jahrhundert Arbeitsbuch, epodium Verlag, München 2007, Nicole Haitzinger und Claudia Jeschke (Hg.) unter Mitarbeit von Christiane Karl, ISBN 978-3-940388-00-, Euro 29,00

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