Mit über hundertjähriger Verspätung

Paul Taglioni: ein Jet-Setter des Balletts avant le temps

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Stuttgart, 01/06/2007

Hat Berlin die Chance verpasst, anstelle von Sankt Petersburg die Hauptstadt des klassischen Balletts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu werden? Die Frage stellt sich anlässlich des Erscheinens eines Buches, das, wenn es schon nicht dazu zwingt, die Geschichte des Balletts neu zu schreiben, so doch zumindest dazu, eins ihrer Kapitel gründlich zu revidieren. Die Rede ist von „Souvenirs de Taglioni“ mit dem Untertitel „Materialien der Derra de Moroda Dance Archives“, herausgegeben von Gunhild Oberzaucher-Schüller als Band 1 in der Reihe der Publikationen des Fachbereichs Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg, Tanzforschungen VII. Es hat 207 Seiten, zahlreiche, zum Teil farbige Abbildungen, ist erschienen im K. Kieser Verlag, München 2007 und kostet € 28,- (ISBN 978-3-935456-14-2).

Es behandelt die Geschichte der Familie Taglioni – sicher die berühmteste und in ihrer Kontinuität am längsten währende Geschichte einer Tänzerfamilie überhaupt, beginnend mit Carlo Taglioni (vor 1755 bis 1835?) und endend mit den Kindern von Marie Eugénie Edwige Gräfin Gilbert de Voisins (1835 bis 1901), die als Marie Taglioni die Jüngere als Tochter von Filippo Taglioni den Fürsten Alexandr Wassiljewitsch Trubezkoi geheiratet und mit ihm sechs Kinder hatte, deren ältestes 1854 geboren wurde und nach 1908 starb. Ein Stammbaum verdeutlicht anschaulich die Daten und Fakten zu Mitgliedern der Familie. Sie beruhen auf Materialien aus den Salzburger Derra de Moroda Dance Archives, die seit 2003 von Gunhild Oberzaucher-Schüller geleitet werden, ergänzt durch internationale Publikationen aus der Zeit nach dem Tod von Derra de Moroda (1978).

Ein detailliertes Jahresverzeichnis reicht von 1777 (der Geburt Filippo Taglionis in Mailand) bis 1884 (dem Tod Paul Taglionis in Berlin). Der größere Teil des Buches widmet sich dem Leben und Wirken Paul Taglionis. Zum Schluss gibt es noch ein Personenregister (mit Lebensdaten). Kurios finde ich, dass dieses Buch über den Berliner Taglioni aus Salzburg kommt – eine Frucht des „Souvenirs de Taglioni“-Symposiums der Universität Salzburg im Dezember 2004. Die Taglionis waren eine ausgesprochen globale Familie, an der Italien, Österreich, Deutschland, die Balkanstaaten, Frankreich und Schweden teilhatten. Filippo Taglioni, Choreograf des berühmten „Nonnenballetts“ und der „Sylphide“, und seine Tochter Marie (die Ältere), vielleicht die berühmteste Ballerina des 19. Jahrhunderts, kennt die Welt – von den anderen Taglionis weiß man zwar, stuft sie allerdings als Randfiguren der Ballettgeschichte ein. Das wird nach diesem Buch zumindest im Fall von Paul Taglioni, der der Sohn von Filippo und etwas jüngere Bruder von Marie war, und von dessen Tochter Marie (also die Jüngere, Nichte ihrer berühmteren Tante) zu revidieren sein.

Der erste Teil ist „Zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert“ überschrieben und befasst sich mit den Wandlungen, die insbesondere das französische und das italienische Ballett in jenen Jahrzehnten nach Noverre durchmachten. Dann befasst sich Gunhild Oberzaucher-Schüller vornehmlich mit Filippo und Marie Taglioni und ihrem frühen Wirken in Wien (und Stuttgart) sowie mit dem Wandel des Verhältnisses zwischen mimischer Erzählung und Tanz und der Wechselwirkung zwischen Gesellschaftstänzen und Theatertanz – auch mit der allmählichen künstlerischen Aufwertung des Balletts. Bereits hier staunt man über die Fülle von Informationen, von denen man (ich) bisher keine Ahnung hatte. Die folgenden 28 Seiten sind „Zu Paul Taglioni“ überschrieben, und gelten hauptsächlich dem Schaffen Paul Taglionis in Berlin, lassen Zeitzeugen zum Zuge kommen, bieten ein komplettes Werkverzeichnis mit den staunenerregenden Aufführungszahlen seiner Ballette in Berlin (47 Titel an der Königlichen Oper, hinzu kommen noch 8 Werke für London sowie 10 ihm zugeschriebene Stücke ohne sicheren Nachweis plus 33 Opernchoreografien).

Fünf seiner in Berlin kreierten Ballette („Satanella“, „Flick und Flock“, „Ellinor“, „Sardanapal“ und „Fantaska“ kamen – nach ihrer Uraufführung in Berlin – allein in Wien, Madrid, Venedig, Turin, London, Warschau, Florenz, Neapel und Rom auf 1470 Aufführungen. Gastspielreisen führten ihn als Tänzer beziehungsweise als Choreograf nach Stuttgart, Wien, München, Karlsruhe, Paris, Bordeaux, Frankfurt am Main, London, Kalisch, Liverpool, Manchester, Rouen, New York, Philadelphia, Boston, Providence, Hamburg, Kopenhagen, Breslau, Stettin, Stockholm, Posen, Warschau, Mailand und Neapel – und das alles zwischen 1825 und 1866. Einundzwanzigjährig kommt er 1829 als Gasttänzer nach Berlin, wird Mitglied des Hofopernballetts, beginnt seine Karriere als Choreograf 1831 mit den „Pagen des Herzogs von Vendôme“, wird zwischendurch Ballettmeister am Her Majesty´s Theatre in London, dann auch Ballettmeister in Neapel und Wien und von 1856 bis 1883 Ballettmeister an der Berliner Hofoper, geht am 1. Oktober 1883 in den Ruhestand (Rente mit 67??) und stirbt drei Monate später, kurz vor seinem 76. Geburtstag, in Berlin.

Ein Jet-Setter des Balletts avant le temps? Schon mal was gehört von einem gewissen Monsieur Marius Petipa aus dem fernen Sankt Petersburg, der in jenen Dezennien gelegentlich in Paris auftaucht, von dessen Balletten man im Westen wohl ab und zu liest, aber die man erst lange nach seinem Tod dort auch zu sehen bekommt? Dass Paul Taglioni in Berlin ein geschätzter Ballettmeister war, wusste ich natürlich, auch dass er dort eine Menge Ballette kreiert hat (Rolf Iden hat drei von ihnen – „Satanella“, „Flick und Flocks Abenteuer“ und „Sardanapal“ – auf immerhin sieben Seiten in „Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters“ ausführlich beschrieben), aber ich hielt ihn für eine biedere preußische Lokalgröße, einen rechtschaffenen Balletthandwerker (Oberzaucher-Schüller überschreibt ihre staunenswerten Entdeckungen „Immer Künstler, nie Handwerker ...“) und hatte keine Ahnung von seiner internationalen Ausstrahlung, geschweige denn von der künstlerischen Substanz seiner Arbeiten. Da sind mir wahrlich die Augen übergegangen. In ihrer Untersuchung unterscheidet sie in Taglionis Schaffen vier Phasen, die sie „Auf der Suche nach eigenen Mitteln“, „Pflege und Weiterentwicklung der Mittel“ „Verstädterung des Balletts“ (eine besonders schlüssige Beobachtung) und „Ballett als nationales Bildungsspektakel“ nennt. Hier wird jede weitere Beschäftigung mit Taglioni ansetzen müssen. Und sie wird zu einer gründlichen Neubewertung seines Wirkens kommen.

Weitere Beiträge befassen sich dann mit Marie Taglioni der Jüngeren (also Pauls Tocher) und, im „Zur Rezeption“ betitelten Schlussteil, mit der „Ikonographie Marie Taglionis und deren Bedeutung für die Druckgraphik des 19. Jahrhunderts“ (Barbara Romankiewicz – mit einer Überfülle von Illustrationen), mit „Huldigungskompositionen in den Derra de Moroda Dance Archives“ (Patrizia Breitbarth), mit Archiv-Materialien zu Bournonville (Irene Holzer) und unter dem Titel „Biographische Spuren einer europäischen Legende“ mit einer Auswahl von Briefen Filippos, Pauls und Marie Taglionis (Manuela Jahrmärker).

Also ich kann nur wieder einmal über mich staunen! Da bin ich in der Nähe von Berlin geboren, hatte meine ersten prägenden künstlerischen Erlebnisse (allerdings noch nicht im Ballett, sondern in der Oper und im Konzert) im Berlin der Kriegsjahre, habe dann die fünfziger Jahre zunächst als Flüchtling aus der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik in Westberlin gelebt (bevor ich 1959 nach Köln übersiedelt bin) – und hatte achtig Jahre lang nicht die mindeste Ahnung, was für eine blühende internationale Ballettkapitale Berlin im 19. Jahrhundert dank Paul Taglioni war (138 Aufführungen von Taglionis „Der Seeräuber“ seit 1838, 16 Jahre vor Petipas „Le Corsaire“ – 134 mal „Thea oder Die Blumenfee“, 219 mal „Satanella“, 102 mal „Morgano“, 451 mal „Flick und Flock“, 140 mal „Ellinor“, 113 mal „Das schlecht bewachte Mädchen“, 106 mal „Sardanapal“, 124 mal „Fantasca“, 132 mal „Coppélia“).

Aus den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes geht eindeutig hervor, wie alle Intendanten, mit denen Taglioni in Berlin zu tun hatte, aufgeschlossen für das Ballett waren (mehr offenbar als die meisten ihrer Nachfolger). Und dass die Begeisterung der Berliner für das Ballett schier grenzenlos war. Und doch hat keins dieser zu ihrer Zeit hoch gelobten Taglioni-Ballette überlebt. Natürlich: Berlin hatte keinen Komponisten vom Range Tschaikowskys oder Glasunows. Aber waren Hermann Schmidt, Wenzel Gährich und Peter Ludwig Hertel so viel schlechtere Komponisten als Pugni, Minkus oder Drigo? Immerhin war Meyerbeer von 1842 bis 1848 Generalmusikdirektor der Königlichen Hofoper in Berlin und blieb nach seiner 1848 erfolgten Entlassung bis zu seinem Tod (1864) Direktor der Königlichen Hofmusik – also in jenen Jahren, da Taglionis Ruhm in Berlin (und auf dem europäischen Kontinent) auf seinem Höhepunkt war.  Warum hat er, der in Paris mit seinem „Nonnenballett“ in „Robert der Teufel“ (1831) dem romantischen Ballett den Weg musikalisch gebahnt hat, in Berlin keine Ballettmusik komponiert?

Vergegenwärtigen wir uns, dass es nicht Petipa, sondern Diaghilew war, der dem russischen Ballett zu seinem Siegeszug im Westen verholfen hat – und das nicht mit Petipa/Tschaikowskys „Dornröschen“, das bei Diaghilew ein Flop war (vorher hatte er eine Kurzversion von „Schwanensee“ herausgebracht, aber dessen Choreografie stammte bekanntlich, obwohl von Diaghilew Petipa zugeschrieben, von Iwanow). Petipa setzte sich erst ganz allmählich im Westen durch, entscheidend durch die Sergejew-Einstudierungen beim jungen englischen Ballett. Stellen wir uns vor, dass Berlin eine künstlerische Persönlichkeit vom Format Diaghilews besessen hätte, der mit dem Ballett der Oper Unter den Linden aufgebrochen wäre, die Horizonte der Ballettmoderne zu erkunden, mit dem einen oder anderen Taglioni im Repertoire. Dann besäßen wir heute vielleicht eine Taglioni-Akademie an der Spree, die dem Waganowa-Institut an der Newa Konkurrenz machte. Kann man sich nicht vorstellen? Ich schon: ich denke an Harry Graf Kessler (1868 bis 1937), einen künstlerisch hochambitionierten Dandy, der in Berlin mindestens so angesehen war wie Diaghilew in Sankt Petersburg (und bei der Fokine/Straussschen „Josephslegende“ 1914 in Paris durchaus eine vergleichbare Rolle spielte wie Diaghilew bei den diversen Kreationen Fokines für die frühen Tourneen der Ballets Russes).

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