„Der Körper ändert sich natürlich, aber die Seele muss bleiben“

Die Kunst Marcel Marceaus ist nur noch mit einem Hörbuch nachzuerleben

München, 26/09/2007

Marcel Marceau, wohl der größte Solist des Erdballs aller Zeiten, hat 60 Jahre lang in etwa 12.000 Vorstellungen sein Publikum mit der von ihm wesentlich geprägten Kunst der Pantomime bezaubert – in 101 Ländern, wie man sagt. Einer, der sich auch dieser Zahl bedient, ist der Reisende, Filmemacher und Rundfunk-Autor Wolf Gaudlitz, der ein Hörbuch in zwei CDs von 101 Minuten Länge vorlegt. Es ist ein wunderschönes Dokument von Gesprächen vor allem mit dem Maestro, doch auch mit seinen Meisterschülern und seinem letzten Impressario, in seiner zweiten Hälfte produziert noch während Marceau zum Pflegefall wurde. Sein Titel ist programmatisch: „Von Stille bewegt“.

Marceau erklärt, fast immer auf Deutsch, die Kunst der Pantomime: „Das Publikum muss richtig das Bild sehen, auch wenn es nicht da ist auf der Bühne. Ich muss wie in Magie die Leute zeigen, die nicht da sind. Und wenn ich das nicht erreiche, wird das Publikum müde ... Man muss hypnotisieren!“ Wie geht das? „Man muss tief sein und das Bild zeigen, nicht die Philosophie, sondern was geschieht.“ In der Pantomime wie in der Sprache muss man langsam sein, den Leuten Zeit lassen, damit das Bild in ihrem Inneren entsteht. „Die Sprache hat auch ein Bild. Und in der Pantomime ist die Stille auch eine Sprache.“

Das für Marceau rituelle Klopfen des Bühnenbodens, die dabei anklingende Beschreibung seines Selbstverständnisses und die Bezauberung des Publikums, das auch zu Wort kommt, schieben sich dazwischen, ehe er fortfährt: „Die Leute lieben die Stille auch. Denn die Stille hat auch einen Ton, genau wie die Musik.“ Die Pantomime wird erkannt als „eine theatralische Kraft, mit der man alles ausdrücken kann, ohne zu sprechen“, und zwar überall, denn das Gefühl der Menschen ist universal! „Als ich in China spielte – in China ist die Opera sehr wichtig, sind große Akrobaten, sie haben ein Gefühl für den Körper, aber die Stille ist nicht da! Und deshalb, als ich kam, waren sie alle erstaunt: Wie kommt es, dass wir das alle verstehen? (...) Die Bilder sind in uns.“

Marceau beobachtete stets den Menschen auf der Straße und ließ, neben den großen „Pantomimes de style“, seinen 1947 ins Leben gerufenen, tragisch-komischen Bühnenhelden Bip während sechs Jahrzehnten in 48 verschiedenen „Pantomimes de Bip“ auftreten. Moralisch unbesiegbar, ist dieser zugleich Sinnbild für ein unermüdliches Scheitern. Was er verliert, ist in den Worten des Erzählers „nicht etwa die Welt, aber die Chance, sie vielleicht noch retten zu können.“ Nach 50 Jahren konnte Marceau aus der ganzen Bandbreite des Lebens immer mehr in die Darstellung dieser Gestalt legen. Er selbst sagte dazu mit 82 Jahren: „Der Pantomime spielt nicht mit seinem Körper, sondern auch mit seiner Seele. (...) Der Körper ändert sich natürlich, aber die Seele muss bleiben. (...) Eine kindliche Seele, aber mit der Erkenntnis, was man richtig gefühlt hat, was man erreicht hat im Leben.“ Die Erinnerung gehört dazu. Nicht nur die der drei Generationen von Zuschauern, unter denen viele Eltern ihren Kindern sagten: „Das musst du sehen!“ und selber wiederkamen, sondern auch die des 1923 in Straßburg geborenen Marcel Mangel, dessen jüdischer Vater in Auschwitz umgebracht wurde. Der junge Marcel ging in die Résistance, kämpfte gegen Nazi-Deutschland und nannte sich fortan Marcel Marceau. Als Pantomime trat er bereits 1951 in Berlin auf und gehörte zu den Ersten, die Deutschlands Versöhnung mit Frankreich die Hand reichten. „Die junge Generation ist nicht schuldig“, sagte er. Vielmehr liebte er Deutschland als das Land der großen Dichter und Denker. Er liebte auch das deutsche Publikum, das sich stets von der Stille seiner Kunst rühren ließ – vielleicht gerade, weil es nach so viel lärmender Propaganda ein besonderes Bedürfnis danach fühlte. Vor allem aber liebte er die Menschen insgesamt. „Ich spiele zum Beispiel das Leben eines Menschen von der Geburt zum Tod. (...) Wenn man das ganze Leben in fünf Minuten zeigt, kann man das nicht mit der Sprache zeigen. (...) Aber mit der Pantomime zeigt man richtig die Tiefe des Lebens. Wir sagen auf Französisch: L´essentiel.“ Das Hörbuch, dem dies entnommen ist, bringt auch Marceaus Lampenfieber, seine Lehrtätigkeit, seine Begegnungen mit anderen großen Künstlern und Reflexionen über Zeit und Unsterblichkeit zur Sprache, dazu die notwendige Musikalität des Gefühls, aus dem heraus er alle seine Stücke schuf. Mit der wiederholten Einspielung von Mozarts Piano-Konzert Nr. 23, das er bei seinen Auftritten benutzte, führt diese vielschichtig montierte Montage denen, die ihn sahen, seine Gestalt und die ihn umgebende Atmosphäre wieder vor Augen.

 

Marcel Marceau, „Von Stille bewegt“. AUDIOBUCH Verlag, Freiburg 2007.

 

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