„Le Corsaire“: Das Bolschoi-Gastspiel in London aus Münchner Perspektive

Kommentiert vom Münchner Gastautor Wolfgang Oberender

Stuttgart, 22/08/2007

Also hier muss ich ausnahmsweise mich selbst beglückwünschen: dass ich auf die Idee gekommen bin, Wolfgang Oberender, Stellvertreter des Ballettdirektors des Bayerischen Staatsballetts und unermüdlicher Aktivist – nicht nur – in Sachen Petipa, einzuladen, als Gast im koeglerjournal seine Eindrücke über Alexei Ratmanskys neuen „Le Corsaire“ beim Londoner Gastspiel des Moskauer Bolschoi-Balletts zu kommentieren. Dazu bin ich gern bereit, die angekündigte Sommerpause des kj zu unterbrechen. Voilà: unser Petipa-Spezi aus München! oe

Vorweg: Respekt für die editorische Leistung des Bolschoi-Teams, Bewunderung für den Choreografen Ratmansky und viel Genuss als Zuschauer bei zwei Aufführungen des neuen Bolschoi-„Corsaire“ im Londoner Coliseum. Hätte uns (d.h. das Produktionsteam des Bayerischen Staatsballetts) die Fassung, wäre sie vor unserer eigenen herausgekommen, beeinflusst? Im Prinzip nein, in ein paar Einzelheiten sicherlich positiv. Meine erste Reaktion auf die Moskauer Vorstellung ist denn auch: Erleichterung darüber, dass sie die Münchner Produktion in keiner Hinsicht entwertet. Beiden gemeinsam ist das Bemühen, mit allen verfügbaren Mitteln der wissenschaftlichen Forschung der Überlieferung gerecht zu werden und gleichzeitig ein fesselndes tanztheatralisches Ereignis für ein Publikum von heute zu bieten. Dass man dies dann doch mit völlig verschiedenen Ansätzen tun kann, stelle ich mit Freude fest – und mit einiger Überraschung über die Ergebnisse des Moskauer Versuchs, die ich so nicht für möglich gehalten hätte.

Zunächst: Während die rekonstruierten Bühnenbilder wohl wegen des wenig subtilen Lichts im Coliseum etwas trivial wirkten, entfalteten die Kostüme einen unübertrefflichen Charme. Und das ausladende Original-Libretto, die unerträglichen Chargen wie Pascha plus Entourage? Durch die Besetzung mit dem ellenlangen, fantastischen Alexei Loparevich entsteht ein völlig natürlicher optischer Witz, der keinerlei darstellerisches Chargieren mehr braucht. Ein ähnliches Wunder bei Lankedem: die Figur des hinkenden, schmierigen Sklavenhändlers gerät zum atemberaubenden Charakterporträt (Gennady Yanin). Zulma, die durch Gulnara entmachtete Lieblingssklavin des Pascha, ist – ohne einen einzigen Tanzschritt – eine hinreißend komisch-ernste Figur. Usw. Nebenschauplätze das alles? Keineswegs! Unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich die Handlung in drei ausgiebigen Akten entwickeln lässt.

Nun aber: die Petipa-Choreografie-Rekonstruktionen von Yuri Burlaka an Hand der Harvard-Papiere? Viele offene Fragen. Natürlich – das Münchner Symposium hatte das dramatisch akzentuiert – lassen sich die Notationen im Stepanov-System unterschiedlich interpretieren. Aber während Burlaka an einigen Stellen zu wörtlichen Übereinstimmungen mit den Lesarten von Doug Fullington in München kam, gibt es auch jede Menge anderer Lösungen, die mir rätselhaft blieben. Und wenn die wunderbare Scène dansante zwischen Medora, Lankedem und dem Pascha im 1. Bild („Finesse d‘amour“, mit schönem Schrittmaterial für Medora) wirklich Petipa sein sollte, bedaure ich, dass München diese Aufzeichnungen nicht zur Verfügung stand. Dringender Diskussions-Stoff für ein zukünftiges Treffen!

Der „Jardin animé“ litt in London an der mangelnden Bühnentiefe des Coliseums. Bewundernswert der Mut der Moskauer, die historischen Blumenbeete wirklich einzubringen. „Sieht aus wie beim Osterhasensuchen“ – sagte eine Publikumsstimme aus dem Rang. Immerhin: die Bolschoi-Ballerinen (in London: Zakharova/Lunkina, Shipulina/Yatsenko) haben ebenso wenig gestreikt wie die Münchner (sondern wahrscheinlich einfach stumm mit den Zähnen geknirscht), als es darum ging, ihre Soli und die Coda – wie beim Ski-Slalom – durch diese unzähligen Hindernisse zu führen. Die Münchner Entscheidung, auf die Blumenbeete zu verzichten und die entsprechenden Plätze durch Kinder markieren zu lassen, ist luftiger und eleganter, macht es den Ballerinen aber nicht einfacher. Ansonsten tauchten hier bei mir noch viele Textfragen und -zweifel auf, die zu klären sind.

Schließlich: Das eigentliche choreografische Wunder der Moskauer-Fassung: die Leistung von Bolschoi-Direktor Alexei Ratmansky. Sein Umgang mit der Klassik erinnert mich – nicht im Schrittmaterial, sondern in der genialen Anverwandlung eines historischen Idioms – an Cranko (z.B. „Schwanensee“, Pas de six im 1. Akt). Aber hier wäre auch eine Hymne auf Ratmanskys „The Bright Stream“ zu singen. Seit Ashtons „Fille“ und Crankos „Zähmung“ habe ich kein ähnlich gelungenes komisches Ballett gesehen. Wer choreografiert uns die Komödie der Bundesrepublik, wie Ratmansky dies mit dem Leben einer Kolchose in der frühen Sowjetunion gelungen ist? (Pina Bausch kann ich das nicht konzedieren.)

Zurück zum „Corsaire“. Ratmanskys „Grand pas des éventails“ – ein Juwel! Ein zauberhafter Kindertanz in der Piratenhöhle, es wäre noch viel zu feiern, zu diskutieren (etwa der Piratentanz im 1. Akt, wo mich die Münchner Entscheidung, ganz auf Adam zurückzugehen und der musikalischen Rekonstruktion den Vorrang vor der choreografischen zu geben, mehr überzeugt). Konrad, immerhin die Titelfigur, hat im 2. und 3. Akt nichts mehr zu tanzen, wie denn überhaupt Ratmansky, der seine Frauen so verschwenderisch bedenkt, das Piratenkollektiv choreografisch nicht anreichert. Rücksicht auf die historische Form? Ein Wunder, wie es Denis Matvienko als Konrad dennoch gelingt, in einer darstellerischen Stern-Sekunde dem Charakter byroneske Zerrissenheits-Züge zu geben. Wolfgang Oberender

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