Im Wechselbad der Gefühle

St. Petersburger Winternächte an der Oos

oe
Baden-Baden, 28/12/2007

Wieder einmal die mir notwendig erscheinende Erinnerung, dass dies keine Kritik, sondern ein Journal ist (was auch einige durchaus als oe-Fans zu bezeichnende „User“ noch immer nicht begriffen zu haben scheinen). Und darum gleich noch ein Hinweis zu dieser Ballett-Gala der St. Petersburger Mariinsky-Kompanie zum Abschluss ihres allwinterlichen Gastspiels im Festspielhaus Baden-Baden (nach den Aufführungen von Sergejews „Donrnröschen“, Wainonens „Nussknacker“ und einem Fokine-Abend mit „Scheherazade“, „Feuervogel“ und dem unvermeidlichen „Sterbenden Schwan“).

Dazu eine Vorbemerkung: „s hat anlässlich der Premiere von John Neumeiers „Weihnachtsoratorium“ in Wien einigen Ärger gegeben: die vierte Premiere eines Hamburger Ballettabends außerhalb der Freien und Hansestadt – nach der „Kleinen Meerjungfrau“ in Kopenhagen und sowohl „Tod in Venedig“ als auch „Parzival“ in Baden-Baden. Eine ausgesprochene Neid-Debatte, wie mir scheint. Dazu ist festzustellen: der Kopenhagener Auftrag zur „Kleinen Meerjungfrau“ war ein höchst ehrenwertes Unternehmen anlässlich des Hans-Christian-Andersen-Jubiläumsjahres und angesichts der hanseatischen Städtefreundschaft zwischen Hamburg und Kopenhagen. Und was die Baden-Badener und Wiener Premieren angeht: sehen die Hamburger Neidhanseln nicht, dass es sich hier um ein ballettgeschichtliches Novum handelt – dass eine Ballettkompanie ihre Premiere an einen auswärtigen Ort verlagert, weil es dort einfach die günstigeren Arbeitsbedingungen für die entscheidenden Schlussproben gibt, die letzten Endes der Qualität der Hamburger Vorstellungen zugutekommen? Sehen sie nicht, dass das Hamburg Ballett im Vergleich zum New York City Ballet, das eine regelmäßige Sommersaison in Saratoga Springs hat, in Baden-Baden immerhin zwei Kreationen erarbeitet hat, während es die New Yorker in Saratoga in all den Jahren gerade mal zur Uraufführung eines Pas de deux gebracht haben?

Stolz, wie sie sind, sollten sie doch die Baden-Badener Premieren einfach als Provincial Try-outs nach amerikanischem Muster betrachten: ein ballettgeschichtliches Novum. Soviel zu Baden-Baden vorweg! Dessen Gala-Programm mit seinen drei Teilen sich wieder unziemlich in die Länge zog. Immerhin versetzten mich die ersten beiden Teile in ausgesprochene Begeisterung, während mich das Finale der Dreieinhalb-Stunden-Vorstellung in abgrundtiefe Verlegenheit stürzte. Der erste Teil also: der im letzten Frühjahr in St. Petersburg uraufgeführte „The Ring“ des 33-jährigen Alexei Miroshnichenko. Der hat Gottseidank nichts mit Richard Wagner zu tun, sondern spielt in einem imaginären Ballettsaal und erscheint mir als eine Art Antwort auf Harald Landers „Etudes“ (und Assaf Messerers „Ballettschule“) zu sein – und zwar aus dem zeitgenössischen Geist des Post-Forsythe-Zeitalters.

Was Forsythe analysiert und filettiert hat, fügt Miroshnichenko zusammen in einem atemberaubenden Crescendo, mit einem faszinierenden Chaplinesken Intermezzo für den quecksilbrigen Ballettmeister-Tänzer (Anton Pimonov). Ein hinreißendes Ballett, das ich am liebsten gleich ein zweites Mal gern gesehen hätte. Karl-Peter Fürst hat es in seinem Bericht aus St. Petersburg am 16. April im Tanznetz ausführlich beschrieben. Für mich am Schluss von 2007 DIE Choreografen-Entdeckung des Jahres (nach Ratmansky beim Bolschoi-Ballett).

Dann also die Einlösung des Gala-Versprechens mit nicht weniger als sechs ausladenden Pas de deux von Petipa („Dornröschen“ und, überaus charmant, „Der Talisman“ und „Karneval in Venedig“), Victor Gsovsky („Grand Pas de deux“), Roland Petit „La Rose malade“ und George Balanchine („Tschaikowsky Pas de deux“), mit der Elite der Mariinsky-Tänzerinnen, darunter Yekaterina Osmolkina, Yevgenia Obraztova, Viktoria Tereschkina und Ulyana Lopatkina – also wenn es nach mir ginge, würde ich über alle vier eine Ausreisesperre verhängen – und unter den Männern Anton Korsakov, Ivan Kozlov und Leonid Sarafanov. Da wurde einem (mir) wieder mal bewusst, wie sehr unseren gefeierten Stars doch letzten Endes der Fabergé-Feinschliff fehlt.

Und dann also das große ABER! Trotz Fürst und der generellen Akklamation erschien mir die St. Petersburger Wiedereinstudierung von Petipas „Floras Erwachen“ 113 Jahre nach ihrem Entstehen als eine schier unerträgliche Geschmacksentgleisung – eine Art Resteverwertung aus „Le Corsaire“, „Bayadère“, „Raymonda“ und „Dornröschen“ nebst ihrem anakreontischen Gefolge. Ich bekenne mich durchaus als Petipa-Fan, aber was er hier sich als Librettist hat einfallen und rein routinemäßig choreografisch zusammengestückelt hat, ist eine Zumutung und der Anspruch auf eine Gleichbewertung mit den Pioniertaten der Alten Musik eine Beleidigung der Harnoncourt, Jacobs, Christie und wie sie alle heißen. Es ist mir unbegreiflich, wie heutige Tänzer sich für einen derartigen Schwachsinn hergeben und dazu noch diese zotteligen Kostüme tragen können. Der Ziege, die den Wagen von Bacchus und Ariadne zieht, sind ihre 10 Euro Lohn pro Vorstellung herzlich zu gönnen, doch was uns hier als „Floras Erwachen“ zugemutet wird, gehört unter den Füßen von Strawinskys zwanzig Jahre jüngerem „Sacre du printemps“ zerstampft!

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