Advokat der Ausschweifung

Hans Henning Paars erste Münchner Premiere mit einem Tanzstück über Jean Genet

München, 29/10/2007

Eine Operetten-Tanzcompagnie, wie manche im Vorgeplänkel des Intendantenwechsels am Münchner Gärtnerplatztheater befürchteten, davon kann wirklich nicht die Rede sein. Der neue Tanzchef Henning Paar ist alles andere als ein Serviceleister. In seiner Antrittspremiere „Les Autres“ über den „poète maudit“ Jean Genet (1910-86) bewies jetzt sein Ensemble, dass es genau so brillant tanzen kann, genau so technisch schwerelos wie das BallettTheater des Vorgängers Philip Taylor. Zugleich setzt Paar mit diesem Stück eine erste Markierung für das von ihm angestrebte neue Profil eines vorwiegend erzählenden Tanztheaters.

Aber Genet, krimineller Vagabund, Fremdenlegionär, Advokat der Ausschweifung und dann vielschichtig schreibender Dichter, als Tanztheater? Geht das überhaupt? Versuche gab es. Eine treffende sexorgiastische, bluttriefende Pantomime zu Genets erstem Roman „Notre-Dame-des-Fleurs“ (1948) gelang 1971 dem Briten Lindsay Kemp. Auf denselben - nach seiner schwulen Hauptfigur betitelten - Roman, nimmt auch Henning Paar Bezug. Eine Transvestiten-Schockperformance à la Kemp allerdings kann er sich im bürgerlich-lauschigen Gärtnerplatztheater nicht gestatten. Paar findet stattdessen zu einer gesittet-strengen Form, die Genets Obszönitäten behutsam abstrahiert. Eine Form, die auch in sich geschlossen ist, nicht zuletzt dank einer klugen Musikdramaturgie: atmosphärisch bedrückende Soundcollagen und Bach, Kagel, Satie und weitere jüngere Komponisten von einem live-Akkordeon - Frankreich ist da gleich ganz nah.

Es beginnt in der Besserungsanstalt Mettray, wo der uneheliche Genet aufwächst. Die Bühne dafür hat Paar mitentworfen: eine düstere Stätte mit vielen sich später zu neuen Örtlichkeiten verschiebenden Türen. Hier schon kann er sehr gut Motive aus Genets Romanen und seiner Vita überblenden: die Einsamkeit des auf sich selbst zurückgeworfenen Kindes, die nächtlichen Liebesbedürfnisse im Großraum-Schlafsaal, die Machtkämpfe innerhalb der Gruppe und die knebelnde Überwachung durch die Heimwärter. Bei Paar ist das ein schwarzes Schatten-Trio, das mit surreal bedrohlich verlängerten Armen die insgesamt expressionistisch wirkende Anstaltsatmosphäre noch betont. Im Kontrast dazu ist die „Verführung zur Homosexualität“ aus dem „Notre-Dame“-Roman licht und lyrisch gehalten. Loni Landon, David Russo (beide früher unter Taylor) und Sebastian Nichita tanzen das sehr anrührend -- von Paar sichtbar auf Ausdruck, auf Schauspiel hin gecoacht.

Tanzarm ist deswegen der Abend jedoch auf keinen Fall. Rasant von Schritt bis zur geworfenen Hebung das Quintett im Zuhälter-und-Dirnen-Milieu des Montmartre, mit der exzellenten Ex-Taylor-Tänzerin Rita Barao Soares. Jean Genet, den Dichter einzuholen, seine sprachliche sakrale Überhöhung, das ist natürlich das Schwierigste. Paar versucht es am Ende mit einem Apotheose-nahen Bild: der Mörder mit dem schönen Heiligen-Namen „Unsere liebe Frau von den Blumen“ hängt nicht am Galgen, sondern an einer in den (Bühnen-)Himmel führenden Leiter, während vom Band das Due Seraphim aus Monteverdis „Vespro Della Beata Vergine“ erklingt.

In seinem Tanzstil ist Henning Paar nicht sehr weit entfernt von seinem Vorgänger Taylor. Er ist ebenfalls sehr dynamisch, aber im Bewegungsduktus erdhafter, rustikaler, skurriler, beeinflusst vom großen schwedischen Meister Mats Ek. Besonders spannend ist, wie Paar Bewegung phrasiert, hochmusikalisch einerseits, aber auch immer unmittelbar aus dem Impuls heraus, etwas zu erzählen, den Zuschauer an Gefühl und Verstand zu packen. Dass er das in dieser Premiere schaffte, war am anhaltenden Applaus zu hören. Dieses Publikum wird wiederkommen.


weitere Vorstellungen 31. Oktober; 3., 18., 20., 22., 29. November Karten unter 089/2185 1960 Link: www.staatstheater-am-gaertnerplatz.de

Kommentare

Noch keine Beiträge