Die Kostbarkeit der reinen Form

Weitere „Giselle“-Debuts: Natalia Kalinichenko und Lukas Slavický

München, 10/11/2006

Vor wenigen Tagen das Lacarra/Pierre-Debut, dann eine zweite Vorstellung mit Lisa-Maree Cullum und Alen Bottaini, dem Vernehmen nach durch den Erfolg der Kollegen zur Höchstleistung animiert, und jetzt ein drittes Paar. Konnten die beiden aus dem großen Schatten, den ihre Vorgänger warfen, heraustreten? Natalia Kalinichenko hat die Rolle der Giselle schon als 17-Jährige in Kiew getanzt, dann aber lange nicht mehr; Lukas Slavický, immerhin ausgezeichnet mit dem Prix Benoit de la Danse des Jahres 2004, war als Albrecht ein echter Debutant.

Diesen Unterschied sah man in den Spielszenen des 1. Aktes: Wo sie in der Verspieltheit ihrer Liebe eine sehr natürliche Darstellung erreichte, war er manchmal etwas hinterher und setzte die Signale mehr wie eine erinnerte Pflicht, als dass er sich die Rolle des Albrecht schon einverleibt hätte. Dabei hastete er oft zu sehr, als dass er wie ein wahrer Prinz ausgesehen hätte, und überzeugte, weil ihm der 1. Akt nicht viel zu tanzen bietet, nur durch eine technisch starke, makellose Variation. Natalia Kalinichenko tanzte mit großer Sprungkraft und erfülltem Port de bras ganz auf dem Atem der Musik. Ein schönes Bauernmädchen, weit irdischer als Lucia Lacarra, damit realistischer und eigentlich der Handlung angemessener, hatte sie besonders schöne Momente im Spiel mit dem Prachtkleid Bathildas und der Erzählung von ihrer Leidenschaft fürs Tanzen.

Nach einer Variation mit faszinierend balancierten Arabesken, wohlphrasierten Toe-Hops und Pirouetten legte sie den Akzent darauf, wie das Geschenk und die Anerkennung der Gräfin für ihr Talent Giselles Zuneigung zu Bathilda weckt. Wie völlig anders – im Idealfall etwas Neues offenbarend – die gleiche Vorstellung immer wieder sein kann! Nach einer ab Albrechts Entlarvung aufwühlenden Ausführung von Giselles Sterbeszene durch Lacarra jetzt eine dezent andeutende Kalinichenko, die gleichwohl zu Beginn einen erschütternden Moment schaffte, dann aber die musikalische Struktur „braver“ zu einer allmählichen Steigerung nutzte.

Die vom Ensemble brillant getanzte Eröffnung des zweiten Akts durch das Heer der Wilis wies dem weiteren Geschehen die Richtung. Natalia Kalinichenkos Giselle trat, sofort als eigener Charakter erkennbar, in dessen Mitte. Bei Albrechts Auftritt waren Lukas Slavickýs kleine Defizite in der Rollengestaltung wie weggeblasen, er überzeugte in seiner ganzen Erscheinung. Dennoch blieb er in dem Duett, das Giselles Erscheinung im Bewusstsein Albrechts manifestiert, darstellerisch der Juniorpartner. Natalia Kalinichenko bestimmte sehr konzentriert, hochmusikalisch und stilistisch elaboriert die Szene. Bis hin zu der christlichen Geste, mit der Giselle ihren verlorenen Geliebten vor den weiblichen Rachegeistern schützt, erspielte sie sich eine großartige Präsenz.

Was folgte, war eine Sternstunde des Tanzes: Bei ihr überzeugte nicht nur die technische Souveränität und Exaktheit, sondern darüber hinaus durch das fließende Kontinuum, in dem sie, eigentümlich introvertriert, die reine Form zum Sprechen brachte. Da gab es keinen Moment, der als irritierende Vereinzelung herausgefallen wäre, da war die Symphonie von Epaulement und Port de bras der Wert an sich. Und doch war sie, beispielsweise in der Kette ihrer gedehnten Arabesken neue Akzente setzend, im Ausdruck höchst lebendig. Indem sie aber individuell zurücktrat, wurde sie zum Medium der russischen Schule, der verinnerlichten Form. So schuf sie Momente der Transzendenz, in dem das der Musik verbundene, tänzerische Fließen plötzlich weit mehr bedeutete als das noch so virtuose Nachvollziehen der Choreografie. Bei Lukas Slavický war es das große Format des noblen Tänzers, was er über seine imponierend hohen und sicheren Sprünge hinaus zu diesem Akt beitrug, in dem sich beide mehr und mehr in die Schwerelosigkeit des Traumbildes hineintanzten – im Sinn der Traditionspflege das tänzerisch Wertvollste seit Langem. Auch wie Natalia Kalinichenko mit der Ballettmeisterin Colleen Scott diese Rolle in all ihren Details neu erarbeitete, am Ende den Triumph Giselles nur aus dem Inneren leuchten ließ, war in seiner Reduktion auf das Wesentliche ergreifend. Damit hat sie ihre Zugehörigkeit zur obersten Etage der Münchner Ballerinen unterstrichen.

Nach diesen „Giselle“-Vorstellungen scheinen die Sterne für das Petipa-Jahr des Staatsballetts günstig zu stehen. Bereits am 23. November folgt die Wiederaufnahme von „Schwanensee“, und zwar mit Natalia Kalinichenko und dem aufstrebenden Tigran Mikayelyan als Partner, beide mit ihren Münchner Debuts als Odette/Odile und Siegfried.

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