Lucia Lacarras traumhafte Giselle

Starke Debuts auch von Cyril Pierre und Tigran Mikayelyan

München, 01/11/2006

Warum „Giselle“ zum Petipa-Repertoire gezählt wird und somit am frühen Abend als idealer zweiter Akt der Saisoneröffnung des Bayerischen Staatsballetts zu sehen war, ist in der Besprechung der Matinée dieses 29. Oktobers bereits angeklungen. Widmen wir uns also gleich dem Erlebniswert der wichtigen Debuts.

Mit wacher Präsenz bereitete Cyril Pierre Giselles Auftritt vor, indem er von Anfang an die Rolle des verliebten Prinzen mit natürlicher Eleganz sinnfüllend realisierte. Dank der federleicht charmanten, sehr lebendig und innerlich erfüllt tanzenden Titelheldin schien diese Verliebtheit auch kein Wunder. Lucia Lacarra, eine Giselle, deren mädchenhafte Scheu bald der Entflammbarkeit wich, gewann jedem Schritt Bedeutung ab. Der neue Prinz begegnete ihrer Zartheit mit zuvorkommender Behutsamkeit, bewies mit seiner Bestimmtheit gegenüber dem störenden Hilarion (Erkan Kurt deutlich verbessert) Format. Desto stärker wirkte die makellos fließende Variation einer sichtbar von Liebe beflügelten Giselle, die jederzeit zeigte, was sie will, z. B. indem sie Albrecht lockend in den Tanz hineinzog. Da verriet Lacarra Züge ihrer eigenen Persönlichkeit. Cyril Pierre tanzte seine Variation ein wenig angestrengt, aber mit schönem Partnerbezug. Lucia Lacarra steigerte im Zusammenspiel mit Giselles ebenso gütig wie bestimmt agierender Mutter (Irene Steinbeißer) den Zauber und die Musikalität der Anfangsszenen mit über die Detailgenauigkeit hinausgehendem szenischem Erfindungsreichtum zu extremer Kurzweil. In der Variation für Bathilda blieb sie bei den Toe-hops zwar nicht auf der Spitze, ertanzte aber mit ihrer dadurch kaum beeinträchtigten, natürlich fließenden Impulsivität eine große Höhe für Giselles bevorstehenden Fall.

Doch vorher eröffnete das sehr gut einstudierte Corps de ballet den Bauern-Pas de trois, in dessen Zentrum Tigran Mikayelyan als souveräner Partner Ivy Amistas debütierte. Er beeindruckte mit Exaktheit, Stilreinheit, Sprungkraft und spektakulären Verzögerungen in der Luft, die einen Teil seiner zwingenden Präsenz ausmachen, landete alle Sprünge sanft und sicher, bestätigte auch während der Manege seine Musikalität und zeigte ein klares Bewusstsein der szenischen Zusammenhänge. Mit diesem ideal gewachsenen Tänzer reift ein künftiger Star heran.

Dann die Entlarvungsszene: Selten erspielte einer so intensiv wie Cyril Pierre, dass Albrecht förmlich erblasste, selten ging eine Giselle so lebensecht wie Lucia Lacarra zwischen Bathilda und den immer noch lavierenden, um ihre Liebe zu behaupten, selten fiel ein so stark aufeinander bezogenes Paar so auseinander. Giselles Sterben begann Lacarra aus der Starre vollständiger Konsterniertheit und steigerte es über gebrochene Schritte der Erinnerung zu völliger Zerrissenheit. Dass sie in diesem psychischen Prozess die tänzerische Form weitgehend aufgab, berührte, da sie bereits die Herzen aller gewonnen hatte, emotional nur desto stärker.

Übrigens unterstützte das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Dieter Rossberg die Tänzer mit sicheren Tempi und unterstrich mit dezentem Farbreichtum den Sinn.

Im weißen 2. Akt präsentierten die Wilis mit Roberta Fernandez als Myrtha hervorragenden Ensembletanz. Ihnen gegenüber fand Lucia Lacarra eine ruhig tragende narrative Linie. Im Folgenden zeigte sie alle Stärken einer lyrischen Ballerina, ließ immer wieder choreografische Kostbarkeiten aufblitzen und entfaltete den vollen Zauber des Adagios. Cyril Pierre erweckte den perfekten Eindruck von Giselle als einer flüchtigen Erscheinung, deren Bild in seinem Bewusstsein immer konkreter wird und erwies sich erneut als eleganter Partner, der Lucia Lacarra Sicherheit gab und sie optimal präsentierte. Die schwierigsten choreografischen Anforderungen an Albrecht stellte er geschickt um, um das Kontinuum seiner hervorragenden Darstellung zu wahren. So blieb auch der zweite Akt um dieses vollendet aufeinander eingespielte Paar bis zum Ende ein spannendes Tanzgeschehen. Nach der Matinée machte auch diese Abendvorstellung Lust auf die damit eröffnete Spielzeit.

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