Die verschiedenen Gesichter der „Giselle“

Wiederaufnahme nach sechs Jahren mit neuen Tänzern

München, 08/06/2006

Einem publizistischen Höhepunkt in TAKT 7, dem unter www.staatsballett.de leicht zu lesenden Magazin der Bayerischen Staatsoper und des Staatsballetts, mag man die historischen Daten entnehmen. Die Erwartungen wurden dort wie auch dadurch, dass Sir Peter Wright die letzten Proben leitete, hochgeschraubt. Doch ach, die Wiederaufnahme-Premiere von „Giselle“ ließ kalt und jede Magie vermissen.

Tänzerische Höhepunkte setzten allein der in seiner flammenden Kraft derzeit einzigartige Alen Bottaini als Prinz Albrecht, dem man besonders in dieser Rolle die St. Petersburger Schule ansieht, sowie im zentralen Part des Bauern-Pas de six erstmals Lukas Slavický mit raumgreifendem Brio. An dessen Seite bestätigte Tigran Mikayelyan erneut die großen Hoffnungen, die man mittlerweile in ihn setzt, wie überhaupt das männliche Corps nachhaltig beeindruckte. Die Frauen aber blieben blass: Lisa-Maree Cullum tanzte die Titelrolle zwar sauber, schien aber mindestens an Emotion zu sparen. Roberta Fernandes ließ die klare Strenge der Myrtha vermissen, ehe sie mit dem Auftreten der Wilis zu dominierender Präsenz fand. Dazu, dass manches darstellerisch auseinanderfiel, trug die allzu zögerliche Interpretation des Hilarion von Erkan Kurt bei, und auch die Linien und Kreise der Wilis waren nicht zwingend oder bedrohlich.

In der dritten Vorstellung hätte Lucia Lacarra ihr Münchner Giselle-Debut haben sollen, war aber verletzt. Diese sowie die hier besprochene vierte Vorstellung der Serie tanzte also wieder Lisa-Maree Cullum, nun mit anderen Debütanten. Und siehe da, welch eine Entwicklung: Ein frisch und natürlich agierender Roman Lazik als Albrecht und eine Cullum, die mit Ausstrahlung im Tanz den Zauber des Besonderen entfaltete, indem sie sichtbar die Musik empfand, ließen das Publikum mit schönem Partnerbezug die Momente der Freude einer jungen Liebe miterleben. Dagegen stand mit Cyril Pierre ein Hilarion, der als selbstbewusster Jäger überzeugend um Giselle kämpfte, indem er wach und wissbegierig herauszufinden suchte, was da faul ist an dem Kerl, der seiner Giselle an die Wäsche will, die sich mit einer exakten Variation so anmutig vor Bathilda präsentierte.

Der Bauern-Pas de six mit soliden Solisten und einem als organische Einheit tanzenden Corps de ballet geriet zu einem jederzeit schön anzusehenden Vorspann zur Katastrophenszene, eingeleitet von einem souveränen Cyril Pierre, der als Hilarion in den einzelnen Schritten der Entlarvung Albrechts klug die Musik zur Akzentuierung nutze. Umso kläglicher geriet die darstellerische Auslösung von Giselles Wahnsinn in deren Begegnung mit Bathilda. Dabei schaute Gabriella Darvas noch in der vierten Vorstellung fast jeden Augenblick in die falsche Richtung, und Lisa-Maree Cullum geriet Giselles Sterben bis auf einen wirklich starken Moment der Stille nicht so dramatisch wie möglich.

Doch der zweite Akt begann bereits mit einem besonders gelungenen Bühnennebel, die Musik stieg eindrucksvoll aus dem Graben des unter Dieter Rossberg voluminös und farbenreich spielenden Staatsorchesters, Blitze, Sturm … und dann Hilarion –ein Auftakt wie aus dem Bilderbuch! Mit dem im sich verziehenden Nebel sichtbar werdenden Vollmond erschien Myrtha: Zuzanah Zahradniková, sehr eindrucksvoll in dieser gesamten Spielzeit, präsentierte langgliedrig und streng die geistige Substanz dieser wichtigen Rolle, hielt auch in dem extrem langsamen Tempo des Orchesters die Spannung, wirkte majestätisch, und wie das Heer der Wilis magisch auftauchte, wurde auch die Szene hier „zum Tribunal!“ Zu den schönen Variationen der Kleinen Wilis (Ivy Amista sowie besonders Severine Ferrolier mit ihrem poetischen Schwung) und Myrtas tanzte das weibliche Corps weiterhin eine so faszinierende Einleitung, dass Giselles Auftauchen aus dem Grab erschauern ließ! In der mitreißenden Hinrichtung des Hilarion wurden die Wilis zu einer gnadenlosen Armee von Rachegeistern, die im nächsten Zug Albrecht gleich mit erledigen wollten. Giselle stellt sich bekanntlich fürbittend dazwischen: Dabei gewann Cullums Interpretation, mit weit nach vorn gezogenen Bewegungen den Weg zur Verzeihung weisend, beachtliches Format. Mit Roman Lazik, der auch tänzerisch zulegte, ergab sich ein schönes Zusammenwirken, bis die Macht der Wilis brach, ein an Orpheus und Eurydike erinnernder Abschied und somit am Ende eine ergreifende Vorstellung.

Am 29. Oktober eröffnet das Staatsballett seine Spielzeit wieder mit „Giselle“. Die drei dafür angesetzten Vorstelllungen möchte man nach dem zuletzt Gesehenen als zu wenige betrachten.

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