St. Petersburger Winter an der Oos

Das Mariinsky-Ballett im Festspielhaus

oe
Baden-Baden, 28/12/2005

Seine Baden-Badener scheint der Wettergott besonders gern zu haben. Sehr im Gegensatz zu den Römern! Die ließ er zur Verkündigung der päpstlichen Weihnachtsbotschaft schmählich im Regen stehen. Seinen lieben Badensern hingegen bescherte er echten St. Petersburger Winterzauber. Und wenn er auch nicht die Oos in die Newa verwandelte, wie die Russische Kirche im tief verschneiten Kurpark dalag, konnte man sie glatt für die Kathedrale des blutenden Erlösers halten. Und im Festspielhaus herrschte reinste Mariinsky-Stimmung. Wenn schon nicht im Zuschauerraum, so doch auf der Bühne, wo das Mariinsky-Ballett pünktlich zur alljährlichen Weihnachtsbescherung angetanzt war. Samt seinem St. Petersburger Hausorchester unter dem Dirigenten Mikhail Sinkevich.

So russisch ging‘s in der Gala-Vorstellung zu, dass man sich nicht gewundert hätte, Gospodin Wladimir mit seinem teutonischen Gasprom-Kumpel Gerhard auftauchen zu sehen. Zum heiligen „Schwanensee“-Auftakt ein paar Abende zuvor hatten die Mariinskyaner sogar ihre Superballerina Ulyana Lopatkina mitgebracht. In den folgenden Vorstellungen, unter denen natürlich auch der Wainonen-„Nussknacker“ nicht fehlen durfte, waren diesmal die Junioren dran. Und wenn unter dem Alten Fritzen die „Langen Kerls“ zum Synonym für die preußische Soldatenkultur von Potsdam geworden sind, dann repräsentieren heutzutage die „Langbeinigen Mädels“ die Ballettkultur in der ehemaligen Zarenmetropole.

Sie demonstrieren es gleich im Eröffnungsstück, „Reverence“ von David Dawson zum dritten Streichquartett von Gavin Bryars, einem erst kürzlich in St. Petersburg uraufgeführten Sextett für drei Paare. Dawson ist Engländer, derzeit noch Vizechef des holländischen Nationalballetts, von der nächsten Spielzeit an dann Hauschoreograf an der Dresdner Semperoper. Da können die Dresdner sich freuen, denn der Dreiunddreißigjährige ist ein erzmusikalischer Choreograf, grundklassisch, aber Forsythe-gewürzt, mit unwiderstehlichen Port-de-bras-Verführungen und die Beine der Tänzerinnen noch ein bisschen länger erscheinen lassend als sie ohnehin sind. Ein Poem, ganz zart in Schwermut gebadet, voller Abschiedsstimmungen – doch: jeglichem Abschied wohnt ein Neubeginn inne. Eine exquisite Visitenkarte (und trefflicher „Les Sylphides“-Ersatz) für den heutigen Tanz und die Tänzer von der Newa.

Es folgte der übliche Divertissments-Mix mit den Ausstellungspiecen von Petipa, Fokine und Victor Gsovsky – eine Parade der Junioren. Weiter gab es ein ziemlich klamaukhaftes Zappel-Duo „Get What You Gave“, sogar angekündigt als Uraufführung von einem gewissen Alexei Miroshnichenko, das auch von dem formidablen Andrei Merkuriev und seiner Partnerin Elena Sheshina nicht zu retten war, und ein „Schwan“-Solo des berüchtigten Skandal-Choreografen Radu Poklitaru, der kürzlich in Moskau eine heiß umstrittene „Romeo und Julia“-Version herausgebracht hat. Wem bei dem am Leben belassenen, also nicht sterbenden „Schwan“ Schlimmstes schwant, sieht sich nicht getäuscht. Nicht dass dieser „Schwan“ ein Mann ist (der splendide Igor Kolb) – daran sind wir seit Matthew Bourne, Stephan Thoss und Kumpane gewohnt. Doch dieser Schwan lässt in seinem grottenhässlichen Zottelkostüm eher an einen heruntergekommenen Robin Hood denken – und was er „tanzt“, scheint so etwas wie eine Paraphrase auf das berühmt-berüchtigte Götz-von-Berlichingen-Zitat zu sein.

Ja, ja, wenn die Russen sich schon so richtig westlich hingerotzt geben! Und zum Schluss noch der Dänen-Import der Harald Landerschen „Etudes“, seine berühmte Ballettsaal-Studie mit dem Eskalations-Exercice, inklusive der nostalgischen Hommage an den Dänen-Klassiker der Bournonvilleschen „La Sylphide“. Mit Alina Somova, Leonid Sarafanov und Andrian Fadeyev als Top-Stars nebst Delegationen von Halb-, Viertel- und Achtelsolisten und Kohorten von Corps-Tänzern, alle mit dem Gütezeichen Waganowa-trainiert versehen. Gleichwohl hielt sich der tänzerische Überwältigungs-Charme in gewissen Grenzen – wie ein nicht richtig geputzter Kristall-Lüster. Das tanzen die Dänen, die Pariser und auch die englisch Nationalen mit viel mehr Esprit – und, ja Chuzpe. Bei denen blinkt es wie dänische Silberware aus dem Hause Jensen. Die Russen investieren mehr Seele – aber das ist es nicht, was dieses Lawinen-Crescendo braucht. Mir fehlt der entsprechende russische Vergleich, aber wenn das – schwer vorstellbar – von Deutschen getanzt würde, wäre man versucht zu sagen: weniger dänische Silberware, mehr Württembergische Metallfabriken!

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