Hommage an die „Königin des Tanzes“

Maja Plissezkaja zum 80. Geburtstag

München, 21/11/2005

Immer wieder kann man sie z. B. in einem der von Mariss Jansons dirigierten Konzerte an der Seite ihres Mannes – des Komponisten Rodion Shchedrin (*1932) – antreffen: rank, schlank und mit der immer perfekten Haltung einer Ballerina, die Haare zum obligaten Knoten jener Tänzergeneration gebunden, die die Kunstwelt der 50er bis 80er Jahre so nachhaltig bereicherten. Der Tanz ist ihr Leben – und jeder noch so märchenhaften oder mythischen Bühnenfigur verhalf sie Kraft ihrer phänomenalen Technik und individuellen Ausdrucksstärke zu Wahrhaftig und Ausstrahlung. Die Rolle des Sterbenden Schwans von Saint-Saëns machte sie weltberühmt. Ihre Interpretation von Béjarts legendärem Bolero (Ravel) jedoch zeigte, wie wenig sie sich trotz aller Treue zur russischen Tradition des Bolschoi-Theaters in ein Korsett purer Klassik sperren ließ. Gegen heftige Widerstände setzte sie als Interpretin moderne Choreographien durch und Russland verdankt ihr die Kenntnis von Roland Petits und Maurice Béjarts Schaffen. Von Stalin beklatscht, von Chruschtschow gepiesackt und von Putin verehrt, überwand Maja Plissezkaja im Namen der Tanzkunst die politischen und künstlerischen Grenzen ihres Heimatlandes. Überlegungen, sich in Paris niederzulassen, schlug sie in den Wind und wohnt seit nunmehr vierzehn Jahren bei uns in der Bayerischen Landeshauptstadt.

Laut eigener Aussage liebt sie „den Ordnungssinn und den Fleiß“ der Deutschen. In ihrer russischen Heimat, deren Sprache sie – zwar Weltbürgerin – nach wie vor an erster Stelle zu sprechen pflegt, wurde ihr als Primaballerina assoluta der Status eines „nationalen Heiligtums“ zuerkannt. Und das, obwohl sie 1993 die spanische Staatsangehörigkeit annahm. Gemeinsam mit der 31 Jahre alten spanischen Tänzerin Tamara Rojo (seit 2000 Primaballerina des Königlichen Balletts in London) wurde der 79jährigen Plissezkaja, die wohl als eine der größten klassischen Ballerinen des 20. Jahrhundert in die Geschichte eingehen wird, Ende Juni 2005 der mit 50 000 Euro dotierte Prinz-von-Asturien-Preis in der Sparte Kunst verliehen. Plissezkaja und Rojo setzten sich damit gegen Favoriten wie den Architekten Frank Gehry, den Dirigenten Claudio Abbado und den Regisseur Steven Spielberg durch.

Maja Michailowna Plissezkaja wurde am 20. November 1925 als Enkelin einer litauischen Familie in Moskau geboren. Ihre Mutter, Rachel Messerer, war von Beruf Filmschauspielerin, verdiente sich ihr Geld aber auch als Telefonistin, Registratorin in einer Poliklinik oder selbstständige Masseurin. Assaf Messerer, Majas Onkel, war ein hervorragender Tänzer und ersann zahlreiche technische Tricks, womit er den virtuosen Stil des klassischen männlichen Solotanzes vorantrieb. Ballettlegenden wie Ulanowa, Wassiljew, Maximowa und die junge Plissezkaja trainierten unter seiner pädagogisch großartigen Obhut. Aber auch die Schwester der Mutter, Sulamith Messerer, gehörte zur Bolschoier Ballettkompanie. Sie war es auch, die Maja betreute, während ihre Mutter Rachel von 1938 bis 1946 im Gefängnis festgehalten wurde. Der Vater Plissezki stammte aus Gomel und trat 1918 der kommunistischen Partei bei. Am 7. Januar 1938 – Maja war gerade mal 13 Jahre alt – wurde er von Tschekisten erschossen und 20 Jahre später, zur Zeit des Chruschtschowschen „Tauwetters“ posthum „wegen des Fehlens eines Tatbestandes“ rehabilitiert.

„Vorbelastet“ – in doppelter Hinsicht – bestand Maja Plissezkaja 1934 die Zulassungsprüfung für den Eintritt in die Moskauer Choreographische Lehranstalt unter dem damaligen Schuldirektor Viktor Alexandrowitsch Semjonow, ehem. Premier danseur des St. Petersburger Marien-Theaters und einem der ersten von Agrippina Waganowa ausgebildeten Tänzer. Die Abschlussfeier in ihrer Schule am 21. Juni 1941 fiel auf den Vortag des Kriegsbeginns zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion Stalins. Zwei Jahre später, nach Beendigung ihrer Ballettausbildung, wurde Maja Plissezkaja mit Auszeichnung am Bolschoi-Theater aufgenommen und bekam ein 10m2 großes Zimmer in einer Kommunalwohnung des Theaters an der Schtschepkinstraße 8 zugeteilt. Diese Adresse behielt sie bis 1955.

Der Diktator Stalin verstarb am 5. März 1951. Zwei Monate später feierte das Bolschoi-Theater 175. Jubiläum und Maja Plissezkaja wurde mit dem Titel „Verdiente Künstlerin der Russischen Föderation“ ausgezeichnet. Nach ihrer Heirat mit Rodion Shchedrin (2. Oktober 1958) zog sie in eine Wohnung am Kutusow-Prospekt. Als sie dann ab Ende der 50er Jahre wiederholt auf Auslandstourneen geschickt wurde (Verdienst pro Vorstellung: 40 Dollar), musste ihr Mann quasi als Pfand daheim zurückbleiben. So eroberte sie New York (1959), Paris (1961) und England (1963) im Sturm. Zurück in Moskau wurde ihr 1964 die höchste Auszeichnung für Künstler in der Sowjetunion verliehen: der Leninpreis. Eine Filmaufzeichnung (DVD VAI 4264) gibt davon Zeugnis.

Maja Plissezkajas Stärke liegt unzweifelhaft in der Rollengestaltung. Der Tanz, die Entwicklung einer Bühnenpersönlichkeit und die darzustellende dramatische Aktion stellen für sie eine untrennbare Einheit dar, die mittels virtuoser Beherrschung der Balletttechnik (schau-)spielerisch gemeistert werden muss. Viele namhafte Choreographen haben Rollen speziell für sie kreiert, die 1972 mit Anna Karenina (nach Tolstoi) selbst zu choreographieren begann. In den 80er Jahren folgten Die Möwe (nach Tschechow) und Die Dame und das Hündchen – alle zur Musik von Rodion Shchedrin. Noch heute, mit fast 80 Jahren, gibt Maja Plissezkaja ihre Geheimnisse und ihre unbändige Liebe zum Tanz unermüdlich in Meisterklassen an jüngere Generationen weiter: „Natürlich sind meine Sprünge nicht mehr so hoch, aber die alte Kraft spüre ich immer noch.“

Buch und CD-Tipp: Nach wie vor lesenswert: Maja Plissetzkaja: Ich, Maija, Lübbe, Bergisch Gladbach, 1995. ISBN 3-7857-0774-6 Einen visuellen Eindruck der phänomenalen technischen Kunstfertigkeit und bahnbrechenden tänzerischen Ausdruckskraft der dem Bolshoi immer eng verbunden gebliebenen Primaballerina kann man sich dank der bisher sieben beim Label VAI (Video Artists International) erschienenen DVDs machen: Filmisch festgehalten wurden u. a. neben ihrer legendären Interpretation des Sterbenden Schwans eine Schwanensee-Aufführung von 1957 (VAI 4261), die Ballette Das Bucklige Pferdchen (1961, VAI 4265), Carmen-Suite-Ballett (1969; VAI 4294), Anna Karenina (1974, VAI 4286) sowie Teile aus Die Fontäne von Bakhchisarai und Die Flamme von Paris (1953, VAI 4263). Hervorzuheben ist die DVD „Plissetzkaya Dances“ (Dokumentation, 1964, VAI4264), die nicht nur einzigartiges Archivmaterial (wie z. B. die junge Plissezkaja im Training) bietet, sondern die beeindruckende Künstlerin auch selbst das Wort zu der von ihr über alles geliebten Tanzkunst ergreifen lässt.

Kommentare

Noch keine Beiträge