Zum 75. Todestag von Serge Diaghilew

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Stuttgart, 19/08/2004

Vor fünfundsiebzig Jahren starb Serge Diaghilew, siebenundfünfzig Jahre alt. Heutige Ballettchefs werden in der Regel wesentlich älter: Balanchine, Ashton, Kirstein, Rambert, de Valois, Lifar – auch Petit, Béjart, Grigorowitsch, van Manen und Neumeier (um nur die international bekanntesten der noch Tätigen zu nennen) haben die sechzig bereits hinter sich gelassen. Zwanzig Jahre lang haben Diaghilews Ballets Russes weltweit für Furore gesorgt – ja, sie haben die internationale Ballettszene revolutioniert wie keine der nach seinem Tod entstandenen Kompanien. Und vor ihm? Die großen Truppen in Paris, Mailand, Wien, St. Petersburg, Kopenhagen, Moskau?

Aus der geschichtlichen Perspektive der Jahrhunderte muten sie wie Vorläufer der Ballets Russes an. Kann man behaupten, dass mit und durch Diaghilew das Ballett endlich, endlich erwachsen geworden ist – durch einen Mann, der nie Tänzer oder Choreograf gewesen ist? Und die großen Kreativen der Geschichte: Vestris („Le Dieu de la Danse“), Noverre, Viganò, Coralli, Perrot, Taglioni, Bournonville, Petipa, Saint-Léon? Keiner von ihnen, der es mit dem intellektuellen Format Diaghilews hätte es aufnehmen können! Und das eben ist es, was Diaghilews Leistung so einmalig und vergleichslos erscheinen lässt: Er hat das Ballett auf den kulturgeschichtlichen Rang erhoben, den die anderen Künste, die Literatur, die Musik, das Schauspiel, die Oper schon lange vorher erklommen hatten! Und zwar indem er den Dialog zwischen dem bis dahin isoliert vor sich hin werkelnden Ballett und den anderen Künsten gestiftet hat – auf einem Niveau, das seither nur in Ausnahmefällen und jedenfalls nie wieder in dieser Dichte erreicht worden ist: Fokine, Nijinsky, Massine, Nijinska, Balanchine als gleichberechtigte Dialogpartner von Strawinsky, Debussy, Strauss, Prokofjew, Satie, de Falla, Milhaud und Poulenc, von Benois, Bakst, Picasso, Matisse, de Chirico und Rouault sowie, nicht zu vergessen, Cocteau. Eben einen wirklich kreativen Dialog.

Die Werke, die dabei entstanden sind, markieren Eckpfeiler der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts – zu viele, um hier aufgelistet zu werden. Auch wenn ihr aktueller Repertoirewert inzwischen arg zusammengeschmolzen ist. Wenn sie heute eher im Konzertsaal als auf der Bühne weiterleben – und in den Büchern. Sie sind der Standard, an dem gemessen zu werden sich gefallen lassen muss, was danach entstanden ist. So gedenken wir heute eines Mannes, dem das Ballett seine intellektuelle Gleichberechtigung im Reigen der Künste verdankt – dreihundert Jahre nach seiner Unabhängigkeitserklärung im „Ballet Comique de la Reine“. Auch wenn namentlich hierzulande einige Intellektuelle diese Anerkennung noch immer nicht ratifiziert haben!

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