„Tanzsichten I" - Uraufführungen von Mauro Bigonzetti, Douglas Lee und Itzik Galili

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Stuttgart, 17/04/2004

Die fünfte Vorstellung des neuen Programms mit den „Tanzsichten II“ nach der Premiere am 8. April (siehe Kritiken und Kommentare im tanznetz vom 9.4.). Ein rappelvolles Haus – und das bei drei Uraufführungen: das soll dem Stuttgarter Ballett erst einmal eine andere unserer Opernballettkompanien nachmachen! Schon nach den einzelnen Balletten einhellige Zustimmung – am Schluss dann helle, nicht enden wollende Begeisterung. Allerdings laut höchstrichterlicher Entscheidung „ein Irrtum des zeitgenössischen Balletts, auf dem dieser Stuttgarter Abend beruht“ – mit der Folge, „dass selbst ausgezeichnete Tänzer wie die Stuttgarter sehr blass aussehen können.“ Muss wohl die zu geringe Sehstärke meiner Brille schuld gewesen sein, dass ich von der Blässe der Stuttgarter Tänzer nichts bemerkt habe! Im Gegenteil, sie tanzten, dass die Fetzen flogen – die Solisten (inklusive der dankbar registrierten Rückkehr von Julia Krämer) und Corps-Mitglieder, am Schluss alle zwanzig, dass man den Eindruck hatte: die ganze Bühne ein einziges hochschäumendes Tänzermeer! Als ob sie alle mit der neuesten in den Studios entwickelten Geheimdroge gedopt worden seien.

Und das in einem wohlproportionierten Programm. Am Anfang das sich aus einer skulpturalen Dreiergruppe in immer neuen Gruppenformationen auskristallisierende „Orma“ von Mauro Bigonzetti mit seiner Adagio-Einleitung und dem anschließenden Allegro (in das noch ein wunderbar elegisches Tuba-Intermezzo eingelassen ist – wie denn überhaupt die ganze Auftragskomposition von Bruno Moretti ein ungemein breites musikalisches Spektrum bietet, bis hin zu der Hommage an Strawinskys „Orpheus“). In der Mitte dann das funebrale „Lachrymal“ von Douglas Lee zur Musik von Benjamin Britten – ein Oktett, das seinem Titel vielleicht ein bisschen allzu viel Ehre machte. Und zum Schluss die rasante Disco-Lichtraum-Installation „Hikarizatto“ von Itzik Galili, dynamisiert von den sechs Schlagzeugern plus Paukenisten als Ausführende des „Percossa“-Tornados von Niels van Hoorn und Janwillem van der Poll (auch dies eine Auftragskomposition) – ein Lichtdom aus 25 Scheinwerferkegeln, die punktgenau 25 Leuchtquadrate auf der Bühne markieren, zwischen denen die Tänzer eine Art Felder-Hopping betreiben.

Ein Ballett als ein Archipel aus Licht, gesteigert nach dem Schneeball-Prinzip – im Finale dann eine Lawine, die alles niederwalzt und die angebliche Blässe der Choreografie zu einer Hypertonie hochtreibt. So dass man beim bloßen Zusehen außer Atem gerät. Das ist choreografische Logistik auf die Spitze getrieben. Vor rund 25 Jahren gab es einmal ein Ballett „Percussions for Six“ des venezolanischen Choreografen Vicente Nebrada, das weltweit für Furore sorgte. Galilis „Hikarizzato“ hat alle Aussicht, dessen Nachfolge anzutreten – und in ihm sind nicht nur sechs, sondern zwanzig Tänzerinnen und Tänzer beschäftigt! Reid Anderson im Glück (und mit ihm das Publikum, wenn schon nicht die ganze Kritikerzunft) – sein Flair, Choreografen für das Stuttgarter Ballett zu entdecken und zu fördern, hat sich auch diesmal aufs Glänzendste bewährt!

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