Die finale Gala des Mariinsky-Balletts

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Baden-Baden, 29/12/2004

Mit rund hundertjähriger Verspätung ist das St. Petersburger Mariinsky-Ballett endlich da angekommen, von wo aus es Anfang des vorigen Jahrhunderts aufgebrochen war, die Zukunft zu erobern! Bei seinem jetzt zu Ende gegangenen jüngsten Gastspiel im Baden-Badener Festspielhaus präsentierte es neben seinen nach wie vor unvermindert populären Klassikern „Schwanensee“ und „Nußknacker“ zum Auftakt einen kompletten Balanchine-Abend (siehe kj vom 22.12.). Und Balanchine dominierte auch die finale Gala, mit dem „Verlorenen Sohn“ (1929) zu Beginn und den „Diamanten“ aus der „Juwelen“-Trilogie (1967) als Schlussstück, zwischen denen die unvermeidliche Pas-de-deux-Folge von Klassikern des Bravour-Repertoires erneut die tänzerische Virtuosität der Gäste aus der Newa-Metropole demonstrierte.  Doch selbst in diesem Mittelteil war es wiederum ein Balanchine – der auch vom Stuttgarter Ballett importierte „Tschaikowsky-Pas-de-deux“ (1960) – der eindeutig als Gourmet-Stück in diesem „Kessel Buntes“ fungierte.

Balanchine also, der vom damals bereits in Petrograd umbenannten St. Petersburg via Paris ins amerikanische Exil emigriert war, ist inzwischen fester Bestandteil des Mariinsky-Balletts (wie sich die Kompanie des ehemals Kaiserlichen Marientheaters heute wieder nennt – nach ihrer Zwangs-Adaption als Kirow-Ballett) – als modernes Fundament einer Repertoirepolitik, die inzwischen auch Neumeier und Forsythe integriert hat. Jetzt dürfte es interessant sein, beim nächsten Baden-Badener Abstecher vielleicht zu sehen, wie die Mariinskys eben diese beiden Choreografen verinnerlicht haben. Mit ihrer jetzt demonstrierten Konzentration auf Balanchine haben sie uns jedenfalls hochgradig sensibilisiert für die Wurzeln, aus denen Balanchine seine Kraft bezog, um sie dann auf so unverkennbar amerikanische Weise zu kanalisieren. Und das war eben nicht nur seine Herkunft als legitimer Erbe der zaristischen Petipa-Tradition, sondern auch als wacher Zeitgenosse der Oktoberrevolution und direkt Beteiligter an dem Aufbruch des sowjetischen Theaters in die ungeheuer vitale Kreativität der Zwanziger Jahre.

Das wurde uns bei der Wiederbegegnung mit dem „Verlorenen Sohn“ besonders bewusst, der uns bisher in seiner grotesken Expressivität immer wie eine Stummfilm-Parodie erschienen war, während uns jetzt in Baden-Baden seine enge Verbindung mit dem revolutionären Expressionismus eines Goleisowsky aufging. Es war wirklich die Heimkehr Balanchines zu seinen Quellen (quasi eine doppelte „Heimkehr des verlorenen Sohnes“), der von den Russen mit einer ganz anderen Überzeugungskraft über die Rampe projiziert wird als von den Amerikanern des New York City Ballet. Wenn jetzt der offenbar noch sehr junge Andrei Merkuriev zu seinen Sprüngen in die Luft abhebt, dann tanzt er, als gälte es, seinen Namen als ein Nachfahr des legendären Götterboten zu legitimieren – sozusagen in Personalunion mit dem Odysseus, bloß dass er seine Ohren eben nicht verstopft, sondern rettungslos der Verführungssexiness der Sirene von Daria Pavlenko verfällt.

Und so sahen wir jetzt auch den sattsam bekannten „Tschaikowsky-Pas-de-deux“ mit neuen Augen, wie er von Olesia Nowikowa and Andrian Fadejev um ganze Kilo erleichtert gleichsam auf einer Sommerwolke am Himmel über St. Petersburg schwebte, mit den liebkosenden Armen als unendlich sanften Flügelschlägen. So schien an diesem – vorerst – letzten Abend der Russen an der Oos, gebettet auf den Zauberklängen, die Michael Sinkewitsch mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters den Tänzern wie eine Kuscheldecke unter den Füssen ausbreitete (nicht zuletzt zur Dämpfung der hämmernden Spitzenstaccati ihrer Schuhe) – St. Petersburg so gegenwärtig wie zu jener großen Zeit, da die Bäderstadt am Rande des Schwarzwaldes als Russenrefugium mit jener anderen Bäderlandschaft an den Ufern des Schwarzen Meeres konkurrierte.

Es war das Erlebnis einer kalten Winternacht, erhellt und durchwärmt von den Tanzstrahlen der Weißen Sommernächte am Finnischen Meerbusen, so porzellanhaft evoziert von Ekaterina Osmolkina nebst ihrem Désiré-Prinzen Vladimir Shklyarov, so unerschütterlich standfest modelliert von Viktoria Tereschkina und ihrem Partner Anton Korsakov in Victor Gosvskys „Grand Pas classique“, so duftend in den Raum gesprayt von Irina Selonkina und Igor Kolb im „Geist der Rose“, so rhythmisch aufgepeppt von Sofia Gumerowa und Jewgeny Iwantschenko als Kitri und Basil und so krönend überwölbt von Uliana Lopatkina und nochmals Iwantschenko als funkelnde Diamanten in der Juwelenpracht ihres tänzerischen Fabergé-Geschmeides aus 34 Edelsteinen. Wiederkommen, bitte, so bald als möglich!

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