Auf dem Weg zu einer neuen Gebärdensprache

Georg Friedrich Händel: „Theodora“

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Straßburg, 24/10/2004

Kein Tanz, keine Choreografie – ein Oratorium, eins der letzten von Händel, Jahrgang 1750. Ein Flop bei der Uraufführung und dann in Vergessenheit geraten. 1996 in Glyndebourne wiederentdeckt und in der Produktion von Peter Sellars (mit William Christie am Dirigentenpult) ein Sensationserfolg. Jetzt von der Opera du Rhin in Straßburg übernommen – in anderer Besetzung, dirigiert von Jane Glover, mit Mireille Delunsch (Theodora), Steven Wallace (Didymus), Jonathan Best (Valens), Matthew Beale (Septimius) und Yvonne Howard (Irene), den Chören der Rheinoper und dem Sinfonischen Orchester Mülhausen. Vielleicht nicht ganz so hochkarätig wie in Glyndebourne, doch auch hier geradezu verstörend – fast vier Stunden mit nur einer Pause – ein tief bewegender Musiktheaterabend – in jeder Beziehung bewegend-bewegt!

Eine christliche Märtyrer-Legende. Theodora, eine überzeugte Christin, weigert sich, den römischen Göttern zu opfern, zieht sogar einen römischen Soldaten, Didymus, auf ihre Seite und wird, zusammen mit ihm, vom römischen Statthalter Valens zum Tode verurteilt – hingerichtet in Sellar‘s ganz moderner, amerikanisch akzentuierter Inszenierung, durch eine Giftinjektion – mit deutlicher Anspielung auf den Film „Dead Man Walking“. Sympathisanten sind Theodoras Vertraute Irene und der römische Soldat Septimius, ein Kamerad Didymus‘, hin und her gerissen von seinen Gewissensbissen, doch letzten Endes dem römischen Kaiser ergeben.

Das Ganze weit entfernt von einem christlichen Mysterienspiel à la Oberammergau! Ohne jegliche choreografische Ambition, dabei alles andere als statuarisch. Und doch so bewegt wie kaum eine Operninszenierung. In Straßburg fühlten sich manche an Pina Bauschs frühe Inszenierungen der Gluck-Opern erinnert. Dem kann ich nicht beipflichten. Ich würde die Inszenierung eher aus den Produktionen von Bob Wilson ableiten, ähnlich wie ja auch schon Sellars‘ Inszenierung von Messiaens „Saint François d’Assise“ in Salzburg. Eine Inszenierung, deren Bewegungsrhetorik eher eine Weiterentwicklung der Taubstummensprache darstellt, aber vollkommen abstrahiert. Nur selten nimmt sie direkten Bezug auf den Text (in bestimmten Drohgebärden beispielsweise) – immer aber gibt sie sich ausgesprochen musikinspiriert, ohne doch die Musik zu illustrieren. Allerdings gibt Sellars zu, ein großer Bewunderer Balanchines zu sein. Doch, wie gesagt: sie verdichtet sich nie zu Choreografie, bleibt eine reine, ästhetisch wunderbar rein und klar anzusehende Gebärdensprache. Sie zeichnet musikalische Linien in die Luft und erweist sich dabei von einer überwältigenden emotionalen und dynamischen Vielgestaltigkeit. Ich sehe sie als eine Weiterentwicklung in der Nachfolge von Laban, Wigman und Wilson.

Mich hat dieser Händel kolossal beeindruckt (den es übrigens in der Glyndebourne-Produktion auf DVD gibt – auf einer einzigen Disc von 210 Minuten Spieldauer!). Ich kann mich nicht erinnern, von einer Theaterproduktion geistlicher Musik je so gepackt worden zu sein wie von dieser Sellarschen „Theodora“ – keiner Neumeier „Matthäus-Passion“, keinem Freyerschen „Messias“, keinem Béjartschen (Mozart-)„Requiem“ und keinem Homokischen (Verdi-)„Requiem“ – ganz zu schweigen von Scholzens „Gloria in excelsis“. Was ich mir jetzt von Sellars wünschte, wäre eine Inszenierung von Debussys „Martyre des Saint Sébastien“ (und vielleicht könnte er mir ja auch eines Tages den mir gründlich verleideten „Parsifal“ schmackhaft machen).

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