Von Tausendfüsslern und Hoppelhasen

Die Bühne lebt: Tanzexperimente von Thomas Hauert und Loïc Touzé bei der Münchner Tanzwerkstatt

München, 06/08/2003

A steht auf der Bühne, während B zuschaut. Der Schweizer Thomas Hauert und der Franzose Loïc Touzé spielen in ihren, bei der „Tanzwerkstatt Europa“ in München gezeigten, Deutschen Erstaufführungen mit den Rändern dieser Minimaldefinition von Theater. Hauert beweist sich dabei nicht zuletzt ganz als Landsmann Christoph Marthalers. Er lässt seine „Compagnie Zoo“, die er mit vier ehemaligen Rosas-Kollegen gegründet hat, selbstgeschriebene Lieder singen - auf Italienisch, der Sprache der Oper, aber ebenso der schmissigen Italo-Pop-Gassenhauer, die die Musik von Bart Aga weit mehr evoziert. Den Songs setzt er immer wieder Extrakte aus den Bach´schen Goldberg-Variationen entgegen. Nie ist die Musik da nur Taktgeber des Tanzes. Von Leben, Lügen, Wahrheit und Erinnerung erzählt sein Tanzmusical. Vor allem die Liedtexte sind es, die das titelgebende Motto „Verosimile“ reflektierend umkreisen. Choreografisch besticht Hauert, auch hier Marthaler nicht unähnlich, aber mindestens ebenso der Rosas-Schule verpflichtet, durch ein superbes Gespür für Rhythmus und Gruppendynamik. Wenn sich die fünf Tänzer aus ihren an Contact Improvisation erinnernden knäueligen Verwuselungen gelöst haben, die zu Beginn und Schluss das Stück rahmen, umkreisen sie mit der zwanglosen Zwangsläufigkeit von Planetenbahnen die Bühne.

In luftiger Leichtigkeit geht das Quintett in seinen weißen Unisex-Nachthemden geometrische Raumfiguren ein, die auf den bunten, an ein Fernseh-Testbild erinnernden Tanzboden-Bahnen ein wenig an die niedlichen Klang-Visualisierungen der Computer-Musik-Player erinnern. Großartig die Sequenz, in der Hauert, Sara Ludi, Samantha Van Wissen, Mat Voorter und Mark Lorimer im Gleichschritt im Kreis stampfen – oszillierend zwischen militärischem Marschdrill und der Possierlichkeit eines Tausendfüsslers, den man in diesem Bühnenbiotop der Compagnie Zoo amüsiert betrachtet. Schließlich, Marthaler-Anklang Nummer Drei, durchziehen humorige Körperkomik-Schrullen diese Stunde. Doch vor allem dramaturgisch ist in der Wahrscheinlichkeitsrechnung von „Verosimile“ doch ein Wurm. Das bloße Abwechseln von Solonummern und uhrwerkpräzisen Gruppenchoreografien ist auf Dauer eine langweilige Struktur, in der ohne Höhepunkte der Fokus und die Aufmerksamkeit des Zuschauers abhandenkommen. Statt einer explosiven Versuchsanordnung erweist sich Hauerts Choreographie als ziselierte Spielmaschinerie.

Präzision und Prätention - dem vor nichts als Unwahrscheinlichkeiten strotzenden, restlos abgefahrenen „Morceau“ von Loïc Touzés Compagnie 391 ist all das völlig fremd. Der Bretone, in den Achtzigerjahren Solist an der Pariser Oper und Tänzer unter anderem bei Mathilde Monnier, hat mit Jennifer Lacey, Latifa Laâbissi und Yves-Noël Genod gut fünfzig minutenkurze Brösel parat, die in jeder Vorstellung aufs Neue angeordnet werden. Erlaubt ist dabei, was normalerweise peinlich oder streng verboten ist. Mit allerlei Perücken, Pelzmänteln und anderer Maskerade ausstaffiert, präsentieren die Vier eine Unmöglichkeit nach der Nächsten: ein schlechtes Chanson-Playback, einen Französisch-Kurs für Kinder, lebende Bilder, eine Stummfilm-Parodie. Zwei tanzen ein Duett, wobei einer versucht, dem anderen Knutschflecke in den Körper zu beißen. Dann wieder erklärt Genod, dass nun das Publikumsgespräch stattfinden und man die Show nach der Vorstellung zeigen wird, während Touzé mit einem Fußball dribbelt, ein leibhaftiger Hase über die Bühne hoppelt, Laâbissi schräge Grimassen schneidet und Lacey Tabledance spielt. Und immer wieder ziehen sich Zitat-Miniaturen aus der Tanzgeschichte durch den Ulk, kurze Sequenzen à la Béjart, Cunningham und Butoh. All das ist zum Brüllen komisch, weil die Vier nie komisch und ironisch sein wollen, nie aus der Distanz in Anführungszeichen ausstellen.

Anders als bei Jérôme Bel und Konsorten gibt es im „Morceau“ so keinen hintergründigen, doppelten Boden, auf dem zutiefst nachdenklich über Körper, Bewegung und Tanz meditiert wird. Die Compagnie, beheimatet am Théâtre National de Bretagne in Rennes, lebt einfach mal all das aus, was man - zumal im strengen Regiment des klassischen Tanzes - nicht einmal zu denken wagen darf. In ihrem Spiel mit der absoluten Sinnlosigkeit verweigern sie der Tanzperformance, Traumwelt, Zauberreich, andere Realität zu sein, erst recht kein prädestiniertes Forum für intellektuelles Tiefenschürfen. Stattdessen gibt es Tanz als komisch-traurigen Slapstick, irgendwo zwischen Buster Keaton und Jacques Tati. Ob in ihrem lauten Spektakel am Ende mehr als höchst unterhaltsame, aber belanglose Alberei herauskommt, schert Touzés Tänzer wenig.

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