Der Körper als Instrument

Auftakt der „Tanzwerkstatt Europa“ in München: Lynda Gaudreau fasziniert und irritiert mit "Encyclopoedia - Document 3"

München, 01/08/2003

Tanz sagt mehr als tausend Worte. Sagt man so gerne. Lynda Gaudreau macht zur Eröffnung der diesjährigen „Tanzwerkstatt Europa“ hörbar, was die sich bewegenden Körper der vier Tänzer ihrer Compagnie De Brune von sich geben. Kleine Mikrofone an ihren Shirts sind so sensibel eingestellt, dass jedes Knirschen des Stoffes, jeder Luftzug, jedes Geräusch der Bewegungen überlaut verstärkt wird. Kein multimediales Technikprotzen: Einfache Effektgeräte wie Hall, Rückkoppelungen und Reverbs verfremden den Klang, ein frappierender akustischer Tanz entsteht: Die Kanadierin macht mit dem „Document 3“ ihres „Encyclopoedia“-Projekts den Körper buchstäblich zum Instrument.

„Superschnell“ sind die Aktionen der vier Performer, wie das Cristian Duarte in seinem burlesken, gestotterten Monologfragment auch seiner Katze attestiert, bevor er später wenig effektiv über Schwarze Löcher doziert. Um ihn herum noch mehr Fragmente: Abgezirkelte Isolationen, hochpräzise aneinandermontierte, atemlos zuckende Bewegungsvokabeln, die Anna Bozzini, Sophie Lavigne und Monique Romeiko vor einem weißen, luziden Pergamentvorhang von hinten beleuchtet als dunkle Schatten nie zu einem nach traditionellen Kriterien sinnvollen Satz vollenden. Bemerkenswert: Wenn der Vorhang umgehängt wird und sich die Tänzer so gelegentlich dem Blickwinkel des Zuschauers entziehen, sieht man allein mit seinen Ohren noch immer ganz genau, was sie in diesem Moment tanzen.

In ihre seit 1998 laufende „Encyclopoedia“ baut Gaudreau Fragmente anderer Choreografen ein, in diesem Teil nun eine Sequenz der Portugiesin Vera Mantero und ein Video des Londoners Akhram Khan. Diese Elemente sind dabei nie bloßes Zitat, sondern über Verfremdungen - etwa dem während des Abspielens über die Bühne rollenden Projektor bei Khans Film - ebenso von jeglichen vordergründigen Referenzen befreit. „Encyclopoedia“ ist somit alles andere als eine objektive Bestandsaufnahme, als ein Katalog eines sicheren Ist-Zustandes des zeitgenössischen Tanzes. Die Dokumente, die Gaudreau in ihrem Lexikon ab- und aneinanderheftet, sind Bruchstücke, Vermutungen, Thesen, Statements, Diskussionsgrundlage - das Resümee eines permanenten Befragungsprozesses, der allein deshalb doch wieder ein plastisches (und akustisches) Bild von freiem Tanz zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermittelt. Doch Sprache ist auch nur bedingt hilfreich, um sich zu verständigen und Lösungen zu skizzieren. Am Ende hantieren die vier Tänzer mit Diktafonen, deren Kassetten sie zu schnell ablaufen lassen, und sprechen die Micky-Maus-Sprachfetzen nach. Mmh, donner, tja, rausch, fiep, wusch, seufz. Die „Encyclopoedia“ ist nie ein wissenschaftlicher Tanz-Text, sondern ein oft greller Comicstrip: Absurdes Tanztheater, das mit spitzem choreografischen Stift präzise und in überwältigender Dichte auf das gefaltete Papier-Bühnenbild von Annie Lebel gezeichnet ist.

Der zweifelsohne gewagteste, am wenigsten gefällige Auftakt der „Tanzwerkstatt“ seit Jahren, so gar nichts für altmodische Tanzästheten und ganzheitliche Körperpuristen. Ein brodelndes Labor, kein Stück. Als das Tanzquartett nach 45 Minuten eine leeres Blatt Papier, eine Rauminstallation mit weiterhin quiekenden und rauschenden Rekordern zurücklässt, gibt es pflichtschuldigen, emotionslosen Applaus. Dabei brennt sich dieses Stück, das vor anderthalben Jahren von „luzerntanz“ produziert, kürzlich bei der Biennale in Venedig und hier nun erstmals in Deutschland gezeigt wurde, im Zuschauer ein. Nicht wie gewohnt dank visueller Körperarchitektur, sondern vor allem als akustischer irritierender Schock entwickelt es eine im Sinne des Wortes sensationelle Bannkraft. Am Liebsten würde man sofort auf „Zurückspulen“ drücken und noch einmal hinhören.


Weitere Aufführungen: 9./10. Oktober, Festival international de Nouvelle Danse, Montreal

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