„The Wall“, Ballett von Mario Schröder

B-Premiere, Opernhaus Kiel

Kiel, 13/01/2002

Die Tanzsparte am Kieler Opernhaus dient, wie es scheint, als Durchlauferhitzer. Innerhalb von nur acht Jahren sausten vier Chefs durch den schönen Ballettsaal: Markus Brühl, Martin Stiefermann, Thomasz Kajdanski, Stephan Thoss. Jetzt hat der fünfte das Zepter ergriffen: Mario Schröder wagte den Sprung von Würzburg an die Ostsee. Wie lange mag er sich halten? Intendantin Kirsten Harms, die ihn engagiert hat, wird Kiel bald verlassen.

Die Vorteile des ständigen Austauschs liegen auf der Hand: Das Kieler Publikum sieht in kurzer Zeit sehr unterschiedliche choreografische Handschriften und bekommt immer wieder „frische“ Tänzer vorgesetzt, weil das Ensemble bei jedem Neubeginn fast komplett ausgewechselt wird. Die Nachteile fallen wohl schwerer ins Gewicht: Eine Bindung zwischen Region, Publikum und Ensemble stellt sich nicht ein, langfristige Entwicklungen sind ausgeschlossen. Zum Vergleich, ohne künstlerische Wertung: Vor dem Jahre 1994 hatte Heinz Weitz mehr als 25 Jahre lang das Kieler Ballettensemble geführt.

Schröder, wie Thoss Absolvent der Dresdner Paluccca-Schule, startet an der neuen Wirkungsstätte mit seinem Erfolgsstück „The Wall“ (1979), nach der gleichnamigen Rockoper von Pink Floyd. Im Jahre 1996 studierte er das Werk in Gera-Altenburg ein, 1999 setzte er es in Würzburg auf den Spielplan, nun wird es also in Kiel getanzt. Die Publikumsresonanz bei der B-Premiere scheint Schröder Recht zu geben: Der Beifall ist äußerst heftig, selbst ältere Zuschauer störten sich nicht an einigen rüden Momenten und lautstarken, elektronisch gefütterten Rockklängen. Die Tänzer überzeugen mit unbedingtem Einsatz und meist guter Technik, an Bühnenpräsenz mangelt es bei einigen noch. Es geht um den Konflikt des heranwachsenden „Er“ (Lars Scheibner, kompakt, muskulös, wenig differenziert im Ausdruck) mit der ihn umgebenden Welt und sich selbst: Pubertärer Weltschmerz, Verzweiflung, Triebstau, Albträume. Manipulationen durch die Älteren vermengen sich in dem Heranwachsenden zum heillosen Durcheinander. Sein Weg führt ihn bis in die psychiatrische Anstalt – und wieder heraus, als der Wall fällt.

Das Personal: Seine Freundin (Tina Slabon, geschmeidige Weiblichkeit), die Mutter (Lisa May), der Vater (Matthew Squire, brutal-sentimental) und die Chefin der Anstalt, der Anne-Marie Warburton sehr bemüht eine sadistische Note aufdrückt. Die Gruppe der Patienten in kurzen Hemdchen verkörpert kompakt die psychischen Abgründe bis zum epileptischen Anfall.

Die Beleuchtung schafft eine angemessene Raumstimmung, schaltet immer wieder einmal Pink an. Drei mächtige Mauern, durchbrochen von hohen Öffnungen, rahmen die Bühne ein. Im Gegensatz zu Thoss' hektisch-scharfem, kantigen Stil mit Armbewegungen, die wie Sensen die Luft zerteilen, zeigt Schröder fließende, dynamische Bewegungsabläufe, unterhalb der Hüfte meist klassisch grundiert, oberhalb folgen Arme und Oberkörper harmonisch dem Schwung. Der Luftraum wird mit vielerlei Sprungvarianten genutzt, der Boden mit explosivem Rollen und abgestützten Verschiebungen fleißig ausgemessen.

Auf Musik und Text achtet Schröder sichtbar. Hier eins zu eins vertanzt, dort plakativ wie bei „I need a dirty woman“: Gleich fünf schlanke Frauen in schwarzer Reizwäsche treten auf und versuchen angestrengt, aber vergeblich, so richtig dirty-verdorben zu wirken. Und als affirmative Ahnung des inneren Geschehens: So fesselt der Doppel-Pas-de-deux in „Mother“ durch die zeitweilige Übereinstimmung und das folgende Auseinanderdriften von Mutter und (vermutlich) jüngerem Er (Denis Untila) auf der hinteren Bühne, Freundin und „Er“ vorn.

Nach anderthalb Stunden, die in der zweiten Hälfte etwas zerbröckeln, öffnet sich zum Schluss eine Tür im geschlossenen eisernen Vorhang, Licht flutet herein, „Er“ tritt über die Schwelle – Apotheose haarscharf am Kitsch vorbei. An Selbstbewusstsein fehlt es Mario Schröder nicht: Als nächste Premiere hat er „Mozart-Requiem“ für den April angekündigt. Konkurrenz für Nachbar John Neumeier?

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