„Talk to me!” von Vanessa Huber, tanzApartment

„Talk to me!” von Vanessa Huber, tanzApartment 

Choreografische Untersuchung von Sprache

„Talk to me!” von tanzApartment in der HALLE Tanzbühne Berlin

Hörende und gehörlose Tänzer- und Schauspieler*innen und ein Musiker aus Brasilien, Deutschland, der Schweiz und Syrien begeben sich auf eine tänzerische Recherche, in der sie sich gemeinsam den Herausforderungen des alltäglichen Kommunizieren und Zusammenlebens stellen.

Berlin, 13/03/2022

Choreografin Vanessa Huber, die bereits seit 2014 in inklusiven Projekten für Menschen mit Hörbeeinträchtigung arbeitet, choreografiert in einem von ihr konzipierten und von Heiko Unke gebauten, raffinierten Bühnenbild. Dieses wirkt auf den ersten Blick recht simpel und zeigt eine Wohnzimmer-Kulisse: Ein Tisch, ein paar Stühle drum herum, eine Zimmerpflanze, eine Stehlampe, ein rotes Klappsofa - drei Türen, sowie zwei Fenster mit verstellbaren Rollos und Gardinen bilden verschiedene Zu- und Ausgänge in das Zimmer. Im Laufe der eineinhalb stündigen Performance wird das Wohnzimmer in seiner Raummstruktur und mit all seinen Einrichtungsgegenständen experimentierfreudig, vielfältig und unkonventionell bespielt. Der Einsatz von Licht Schatten und Videoprojektionen schafft dabei Projektionsflächen, assoziative Räume und verleiht dem Bühnenbild Dimensionalität.

„Talk to me“ ist eine choreografische Untersuchung von Sprache, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen verbaler und nonverbaler Kommunikation auseinandersetzt.
Am Anfang bekommt man nur flüchtige Begegnungen zu sehen. Wie in einer Zweck-WG bewegen sich die Tänzer*innen von tanzApartment in das Wohnzimmer hinein und hinaus. Sie verpassen sich oder verwickeln sich in einem Schlagabtausch. Sie registrieren sich nur kaum. In einem Nebeneinander und Hintereinander wird Zeitung gelesen, Tee getrunken, sich kurz auf das Sofa gesetzt.

Im Lauf der Zeit werden die Aufeinandertreffen der Performer*innen länger und intensiver. Sie nehmen sich nun als Gegenüber war. Augenblicke werden zu gemeinsamen Momenten, Worte zu Sätzen, kleine Gesten entwickeln sich zu tänzerischen Sequenzen.

Besonders eindrücklich sind die Szenen, in denen die körperlichen Gesten und Zeichen der Gebärdensprache fast nahtlos in Tanzsequenzen übergehen. Tanz und Gebärden fließen ineinander, fusionieren zu Choreografien. Die Gebärdensprache, als körperliches Zeichensystem und Ausdruck innerer Bewegungen wird zum Ausdruckstanz selbst.

Das Publikum erlebt eine harmonische Fusion von Tanz, Musik, gesprochenem Text und Gebärden. Besonders ist dabei der Einsatz von Musik: Klangkünstler und Mitbegründer von tanzApartment Lorenz Huber, bettet Natur- und Alltagsgeräusche wie Klirren, Surren, Rauschen, Vogelgezwitscher in eine elektronische Soundkulisse ein, spielt auf der Bühne Klarinetten-, Saxophon- und Percussion- Soli, und ist gleichzeitig Performer auf der Bühne und damit auch auf physischer Ebene Teil der Komposition. Manchmal begleitet er die Bewegung, manchmal gibt er im wahrsten Sinne des Wortes den Ton an.

Dass jede Kunstform für sich auch eine Form von Sprache ist, dass alle gezeigten Formen des Ausdrucks voneinander profitieren, sich verweben, miteinander spielen und sich zusammen entwickeln können, zeigt diese Performance auf.

Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch, dass jede Sprache ihre eigenen Besonderheiten hat, die sich nicht in ein anderes Sprachsystem übersetzen lassen. Da hilft auch der Tanz nicht weiter, der doch allgemein als universell verständliche (Ur-)Sprache gilt und sogar Unaussprechliches zum Ausdruck bringen kann. Doch der Tanz scheint nur dann verständlich zu sein, wenn seine Zeichenhaftigkeit eine überpersönliche, allgemeingültige Sinnhaftigkeit hat.

Und wo es nicht weitergeht, wird eben Google-Translate gefragt. Oder Siri.

Siri kann ich dich umarmen?
Eine Sekunde…ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe.
Siri, was ist der Sinn des Lebens?
Es liegt mir auf der Zunge. Eine Sekunde…ich habe gar keine Zunge.


Die Thematik von Sprache und Ausdruck in der digitalen Welt wird in „Talk to me“ wird immer wieder kurz angeschnitten. So sieht man die Darsteller*innen sich selbst oder jemand anderen mit dem Smartphone filmen und anstatt frontal in die Kamera zu sprechen, öffnen sie nur weit den Mund, filmen in ihren Rachen, zeigen Zähne oder klettern auf die Wände des Bühnenbilds und filmen eine andere Tänzer*in aus der Vogelperspektive, wie sie auf dem Boden rollt. Eine Kritik an der Verarmung und Vernachlässigung non-verbaler Kommunikation?

Gegen Ende wird die Performance lauter, schneller, unübersichtlicher. Barrieren, Ausgrenzung und Brutalität werden Gegenstand der Komposition. Eine gemeinsame Sprache wird plötzlich existenziell wichtig. Und zum Schluss sind alle Tänzer*innen miteinander verbunden und dies ist der Eindruck, der trotz auch schwerer Themen nachhallt. „Talk to me“ ist lebendig, persönlich, lebensbejahend. Großer Applaus zum Schluss der Performance, wenn auch halb so laut wie sonst, da ein Teil des Publikums die Hände winkend nach oben hält - Applaus in Gebärdensprache!

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