Mathieu Ganio als Julien Sorel
Mathieu Ganio als Julien Sorel

„Man wird im Ballett mehr Sympathie für Julien Sorel empfinden als im Roman“

Ein Interview mit Mathieu Ganio von Julia Bühle

Der Danseur Étoile der Pariser Oper und Erstbesetzung für die Rolle des Julien Sorel sprach mit Tanznetz über Pierre Lacottes Ballett „Rot und Schwarz“. Das Gespräch fand eine Woche vor der Premiere statt.

Paris, 21/10/2021

Die lange erwartete Uraufführung von Pierre Lacottes Ballett „Rot und Schwarz“ wurde mehrmals aufgrund der Rentenstreiks und der Coronakrise verschoben. Wie verlief der Kreationsprozess?

Wir hatten bereits im November 2020 begonnen, aber das war über Skype. Es war kompliziert, weil das Netz nicht immer stabil war und Pierre nicht das ganze Studio sehen konnte: Wenn wir zum Beispiel eine Diagonale ausführten, konnte er das Ende nicht sehen... Im April haben wir dann die Proben wieder aufgenommen, und dann wieder im Juni. Das Ende der Saison war eine sehr arbeitsintensive Zeit, weil die Theater wieder öffneten und wir gleichzeitig für andere Vorstellungen probten. Das Ballett hat erst seit ein paar Wochen wirklich Gestalt angenommen.
Pierre hatte von Anfang an eine sehr klare Vision des Balletts und er kommt immer mit einer sehr genauen Vorstellung von der Choreographie zu den Proben. Er hat uns zunächst die Pas de deux und Variationen beigebracht. Dann galt es, alles miteinander zu verbinden, das heißt, wir wussten am Anfang noch nicht, an welcher Stelle des Balletts sich der Pas de deux, den wir einstudierten, befand. Das Corps de ballet lernte auch Gruppentänze, ohne immer zu wissen, wie sie in die Geschichte passen. All diese Verbindungen und der rote Faden der Geschichte fügen sich jetzt zusammen.

Wie unterscheidet sich dieses Ballett von Pierre Lacottes Rekonstruktionen von Ballettklassikern des 19. Jahrhunderts im Repertoire der Oper, insbesondere von „La Sylphide“ und „Paquita“?

Es ist das am wenigsten klassische Ballett, das ich von Pierre getanzt habe. Es hat etwas von der Struktur und dem Geist der großen Klassiker des 19. Jahrhunderts: „Rot und Schwarz“ ist eine Großproduktion mit vielen Tänzer*innen auf der Bühne und aufwendigen Kulissen und Kostümen. Jedoch geht es in den Pas de deux mehr darum, eine Geschichte zu erzählen, und die Choreographie ist ausdrucksvoller. Es gibt auch einige für Pierre ungewöhnliche Passagen, zum Beispiel zwei Pas de deux zwischen Julien und dem Abbé Chélan. Darüber hinaus sind die Figuren komplexer: Julien Sorel zum Beispiel ist ein vieldeutigerer und facettenreicherer Ballettheld als Lucien d’Hervilly in „Paquita“.

Wie ist die Figur des Julien choreografisch gezeichnet und wie nehmen Sie ihn wahr?

Die Figur des Julien ist nicht leicht zu interpretieren. Er ist sehr ehrgeizig und handelt manchmal aus Berechnung oder Heuchelei. Beim Lesen des Buches fiel es mir schwer, mich in ihn hineinzufühlen, auch wenn er am Ende etwas menschlicher wird.
Im Ballett wird die unangenehme, opportunistische Seite seines Charakters abgeschwächt. Es liegt denke ich an uns Darstellern, der Rolle diese Nuance einzubringen, denn wenn man sich nur seine Choreographie ansieht, kann man sich täuschen und dem Schein glauben. Julien tanzt einige großartige romantische Pas de deux und es war ein Vergnügen, sie mit meinen Partnerinnen zu lernen. Ich darf jedoch nicht vergessen, dass Julien immer einen Hintergedanken hat: Selbst wenn er sich am Ende wirklich verliebt, dient seine Liebe in erster Linie seinem Ehrgeiz. Er nutzt seinen Charme und sein Wissen, um sich in einem Milieu zu etablieren, das seiner Herkunft nicht entspricht. Man kann leicht glauben, dass Julien sich einfach von seinen Leidenschaften hinreißen lässt, während er in Wirklichkeit trotz der Hindernisse über sein Leben entscheidet. Dennoch glaube ich, dass man im Ballett mehr Sympathie für Julien Sorel empfinden wird als im Buch.

Wie drückt Lacotte aus, was in Juliens Kopf vor sich geht?

Es gibt viel Pantomime, die unter anderem dazu dient, Dinge zu „erzählen“, die in einem Ballett schwer zu zeigen sind. Während des Prozesses sagt er zum Beispiel: „Seit meiner Geburt ist mein Schicksal besiegelt.“ Wie kann man diesen Satz mit Gesten ausdrücken? Ghislaine Thesmar hat uns bei diesen Szenen sehr geholfen, weil sie sehr viel von Pantomime versteht und weiß, wie man Dinge durch Bilder erklärt. Man muss den Gesten verschiedene Nuancen geben, und die Herausforderung besteht darin, sie verständlich zu machen. Das ist angesichts der Komplexität des Themas nicht immer einfach.
Pierre hat auch Visionen geschaffen, um die Gedanken der Figuren auszudrücken: So hat Julien beispielsweise im Seminar eine Vision von Madame de Rênal. Später im Ballett glaubt Mme de Rênal Julien mit einer anderen Frau zu sehen. Dies veranlasst sie dazu, den Brief zu schreiben, der ihn zu Fall bringen wird.

Handelt es sich bei Julien um eine Rolle, die besonders gut zu Ihnen passt?

Sie passt vielleicht nicht ganz zu meinem Charakter, aber die Choreographie passt zu der Art von Tänzer, die ich bin. Pierre hat alle Rollen speziell für die von ihm ausgewählten Solisten geschaffen, und jede Rolle hat eine etwas andere Technik.
Ich denke, dass die Rolle allen vier Solisten, die Julien tanzen, entspricht, mir ebenso wie Germain , Hugo und Mathias , auch wenn unsere Ausstrahlung und unsere Persönlichkeit sehr unterschiedlich sind. Diese Nuancen gefallen auch Pierre. Allerdings hat er uns ganz klar gesagt, dass er nicht vier verschiedene Fassungen sehen will, sondern dass wir uns alle vier an seine Fassung anpassen müssen.

Wie sehen Sie Madame de Rênal und Mathilde de la Mole und die Beziehung, die Julien zu beiden hat?

Die beiden Frauen sind sehr unterschiedlich. Das zeigt sich in der Wahl der Tänzerinnen, die die Rollen interpretieren, und im Tanzstil der beiden. Pierre hat auch für jede Hauptfigur ein musikalisches Thema gewählt, das sie gewissermaßen charakterisiert.
Das Thema des Mannes, der zwischen zwei sehr unterschiedlichen Frauen hin- und hergerissen ist, taucht im 19. Jahrhundert häufig auf. Madame de Rênal ist eine reife Frau mit Kindern, die verantwortungsbewusst und fromm ist und sich für andere aufopfern kann. Mathilde ist eine junge, vom Leben verwöhnte Adelige. Sie ist sehr aristokratisch und stolz auf ihre Vorfahren. Im Laufe der Zeit erkennt sie, dass Adel nicht nur angeboren und dieser auch eine Haltung ist, die sie bei Julien findet. Sie selbst hat einen starken und kühnen Charakter, der sie soweit gehen lässt, sich mit Julien in ihrem Zimmer zu verabreden. Ihre Beziehung wird durch ihren Stolz und die soziale Distanz zwischen ihnen erschwert.
Pierre hat am Ende mehr Wert auf Madame de Rênal gelegt, in die sich Julien wirklich verliebt. Schon im Priesterseminar träumt er von ihr; diese Szene erinnert ein wenig an „La Sylphide“. Sie kommt in einem langen weißen Tüllrock, der an das romantische Ballett denken lässt. Allerdings trägt Julien eine Soutane und der Kontext ist ein ganz anderer.

Wie ist die Stimmung im Opernhaus jetzt, eine Woche vor der Premiere?

Alle sind motiviert, und wir arbeiten sehr hart daran, alles für die Uraufführung vorzubereiten. Pierre ist beeindruckend: Er nimmt jeden Tag von 12 bis 19 Uhr an den Proben Teil, und danach kümmert er sich um die Kostüme, um die Musik... Manchmal sind wir müder als er, und wir fragen uns, wie er das schafft.
Die Uraufführung eines großen Balletts an der Oper ist für uns ein sehr wichtiges Ereignis, vor allem im aktuellen Kontext. Es ist eine große Produktion mit vielen Tänzer*innen, die zeigt, dass das klassische Ballett noch lebendig ist und dass es gerechtfertigt ist, dass die Oper über eine Truppe von 150 Tänzer*innen verfügt. Es wird eine beeindruckende Vorstellung mit großen Szenen für das Corps de Ballet, Passagen für die Solist*innen und schöner Musik von Massenet. Ich denke, dass dieses Ballett vom Publikum mit Spannung erwartet wird, und ich hoffe, dass es ihm gefallen wird.

Für das Interview mit Pierre Lacottes siehe hier.

 

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