„Les Boréades“ von Jean-Philippe Rameau, Regie: Christoph von Bernuth, Choreografie: Antoine Jully

„Les Boréades“ von Christoph von Bernuth und Antoine Jully

Vom Dunkel ins Licht

„Les Boréades“ von Jean-Philippe Rameau in der Inszenierung von Christoph von Bernuth und der Choreografie von Antoine Jully

In guter Barockmanier und in Anknüpfung an die Tradition der „Tragédie lyrique“, einer im Barock vielfach praktizierten Verbindung von Oper und Ballett, ist die BallettCompagnie Oldenburg tragender Teil dieser deutschen Erstinszenierung.

Oldenburg, 04/10/2021

Die Handlung der Oper bezieht sich auf den Boreas-Mythos, in dem der Gott des Nordwindes die Nymphe Orytheia beim Tanzen am Fluss entführt und zu seiner Frau macht. Die Hauptfigur der Oper, Königin Alphise, soll einen der beiden Boreas-Söhne, entweder Borilée oder Calisis, heiraten, um die Erbfolge des Geschlechtes der Boreaden zu sichern. Diese verschmäht aber beide, da sie den Priestergehilfen Abaris heimlich liebt, der im Apollotempel dient. Gott Amor, hier in Gestalt von L´Amour, der Personifikation der Liebe schlechthin, gibt den beiden einen magischen Pfeil (in der Oldenburger Inszenierung eine Lichtkugel) der/die mit Zauberkraft die dunklen Mächte vertreiben soll. Einige stürmische Szenen weiter – der erboste Nordwind bringt ein zerstörerisches Gewitter (phänomenal von Rameau komponiert und vom Percussionisten Michael Metzler in ungeheurer Virtuosität gespielt) – finden die beiden zusammen und das Lichthafte, die echte Liebe siegt über das Dunkel.

Gleich zu Beginn, wenn der Vorhang sich hebt, stehen die Tänzer*innen der BallettCompagnie Oldenburg da: mit ihren irren, zerfransten grauen Barockperücken und Masken, die mehr Fratze sind als Gesicht. Sie fassen den transparenten Vorhang und klopfen gleichsam an die Szene an, die im nächsten Moment nur ihnen gehören wird. Denn die Oper beginnt mit einer getanzten Version der Ouvertüre. Die Tänzer*innen laufen, springen, ja irrlichtern mit zum Teil „barocken“ Bewegungen umher, bereiten den Beginn des Stückes mit einer Parabel auf die Gewalt der Männer vor: eine Tänzerin (Maelenn Le Dorze) wird von ihrer Gruppe wie Freiwild gejagt, entkommt nur knapp. Hier wird gleich der Ernst des Abends vorgeführt: wie das Patriarchat mit Gewalt durchgesetzt wird. Das alles in düsterer Stimmung und in grau-schwarzer Kostümierung, die das Kennzeichen des „Boréades-Clans“ ist.

Auch den weiteren Verlauf des Stückes begleiten die Tänzer*innen, tauchen in die Handlung ein, sind Teil der Boreaden-Familie. Sie treiben ein zum Teil böses Spiel mit den Protagonistinnen, wenn z.B. Borilée die Königin Alphise fast mit Gewalt zur „Liebe“ zwingen will. Hier wirkt die Inszenierung manchmal etwas zu plakativ, indem sie in ihrem aufklärerischen Schwerpunkt zu einseitig Gut und Böse darstellt. Zu wenig Raum bleibt für die Fantasie, sich dieses Thrakien – wohin der Gott Boreas laut Legende die Nymphe Orytheia entführt – als das Land vorzustellen, in dem die Menschen bis ins hohe Alter in vollständigem Glück leben können. Folgerichtig wird auch die getanzte Szene, die genau diese Entführung der Orytheia zum Thema hat, als brutaler Übergriff von Borilée (Kihun Yoon) inszeniert, der die fragile Tänzerin Lucía You fast unter sich erdrückt.

Insgesamt spielt der fortschrittliche, aufklärerische Aspekt, die Emanzipation der Menschen und damit die Befreiung der (damaligen) Gesellschaft von ihren absolutistischen Herrschern eine herausragende Rolle in dieser Oper des altersweisen Komponisten, der erwiesenermaßen Freimaurer war. In allen Szenen, an denen sie beteiligt sind, geben die Tänzer*innen der Handlung Körperlichkeit und Energie: sei es in der aufklärerischen Schreibwerkstatt (an Stelle des Apollo Tempels inszeniert), in der sie wie Schüler*innen auf und um ihre Stühle tanzen, oder bei den kruden Szenen der Boreadenfamilie bis hin zur lichten Aufhellung der Stimmung am Ende der Oper, in dem „Le Merveilleux“, das Licht, den Sieg gegen die Dunkelheit davonträgt.

Die insgesamt wieder sehr elegante und abwechslungsreiche Choreografie von Antoine Jully, die sich nahtlos in das Bühnengeschehen einfügt, trägt maßgeblich zum großen Erfolg der Produktion bei, wenn auch die allerletzte Szene des Freudentanzes – als Polka aller im Kreis choreografiert – nach den vielen kreativen Tanzszenen in ihrer Schlichtheit doch etwas zu simpel wirkt. Wiewohl dabei die Freude aller Darsteller*innen der gesamten Inszenierung deutlich zu spüren ist.

Das Oldenburger Staatstheater schreibt mit der deutschen Erstinszenierung der Oper „Les Boréades“ von Jean-Philippe Rameau Kulturgeschichte! Ursprünglich war diese Produktion von der Komischen Oper in Berlin in der letzten Saison geplant, konnte aber wie so Vieles coronabedingt nicht durchgeführt werden. Nun hatte das Oldenburger Theater die fantastische Möglichkeit, dieses Fundstück für sich zu beanspruchen.

Großen Anteil am Gelingen dieser außergewöhnlichen Opernproduktion hat sicherlich auch der Dirigent des Abends, Alexis Kossenko, Gast aus Paris, Mitglied der Rameau-Gesellschaft. Ohne Dirigierstab lenkt er die Musik, führt barocke Bewegungen mit seinen Armen und Händen aus, tanzt regelrecht mit ihnen! Wie seine Bewegungen unmittelbar den Klang beeinflussen, vorantreiben, kann das begeisterte Publikum beim Dacapo-Einsatz des Schlusschores beobachten, bestaunen, wenn er von der Bühne aus dirigiert. Ein rund herum gelungenes Projekt, das zeigt, wie eine barocke Oper heutzutage aussehen und welch starke Wirkung sie auch heute noch entfalten kann.

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