Wetterleuchten des Lebens

Mario Schröder seziert „Goldmund oder Die Gier nach Leben“ in Kiel

Kiel, 07/06/2004

Generationen von Heranwachsenden hat Hermann Hesses „Narziß und Goldmund“ über die zwei Seelen in ihrer Brust aufs Erlesenste aufgeklärt. Knapp 75 Jahre nach Erscheinen des rauschhaften Romans greift auch der Tanz des Thema um den Widerstreit zwischen Geist und Gefühl auf. Mario Schröder, seit seinen Stücken über Jim Morrison und Vincent van Gogh, seit der Irrenhausparaphrase „The Wall“ und jüngst „Guten Morgen, du Schöne“ nach Maxie Wander Spezialist für zersplitterte Charaktere und Grenzsituationen, setzt bereits im Titel seiner Uraufführung mit dem ballettKIEL Prioritäten.

„Goldmund oder Die Gier nach Leben“ favorisiert die sinnentrunken umgetriebene Seite jener literarischen Zwiegestalt, bebildert ihren Lebensweg vom Erwachen über all die Ausschweifungen des erzitternden Körpers bis zum Tod des künstlerisch wie physisch Ausgelaugten – greift aus der gedanklichen Fülle lediglich einen Episodenkranz heraus. Folgerichtig taucht bei Schröder Narziß nur als multipliziertes, schwarz gewandetes Massenwesen auf, während Goldmund als singuläre Gestalt zwei Stunden lang kaum je von der Bühne kommt. Ihm, dem allzeit Gefährdeten, der anfechtbaren Künstlernatur, gehört des Choreografen Sympathie.

Die tänzerischen Kapitel „(Falsche) Heimat“, bezogen auf Goldmunds Zöglingsjahre im Kloster, „Wanderschaft“ sowie „Rückkehr und Tod“ gliedert er in insgesamt 13 Szenen von teils zwingender Dichte und starker Bildkraft: wenn der Titelheld, nach der ersten Erfahrung der Frau, durch einen vaginalen Spalt seiner sich anschrägenden Klosterwelt entschlüpft und seine Brüder dabei Stoff zu riesenhaften Schwingen drapieren; wenn sich zwischen stimmungsvollen, bisweilen allzu akrobatischen Liebesduetten der Mord an Viktor als virtuoser Groteskkampf ereignet; wenn in Goldmunds Schuld-Solo alle Form zerfasert, die Welt ihr Gleichgewicht, das Leben seine Balance verliert; wenn selbst unterm Pesthauch ein gewaltiges Geschoss, Penis oder nach Gestaltung drängender Baumstamm, den Raum bombardiert; wenn der Suchende im zupackenden Pas de deux mit Agnes endlich ebenbürtige Liebe findet; wenn am Ende im Angesicht der liegenden Narziß-Riege dem Todgeweihten die Lust buchstäblich baden geht. Tanz zeitgenössischen Zuschnitts von oft eindrücklicher Erfindung kleidet die 17 potenten Darsteller passgerecht, mit einem vor athletischem Furor strotzenden Oliver Preiß als Goldmund und der sehnigen Anne-Marie Warburton als Agnes. Bernd Wildens Auftragskomposition schultert, zumal unter Simon Rekers beherztem Dirigat, leicht und nuanciert das emotionale Geschehen.

Premiere: 29.05.200

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