Sinn fürs Dekorative

Richard Wherlock choreografiert die „West Side Story“ auf der Seebühne

Bregenz, 17/07/2003

Wie immer auf der Bregenzer Seebühne ist der Star das monumentale Bühnenbild: ein turmhoher Wolkenkratzer ragt schräg über die schiefe Ebene aus Metall und Glas, deren Eisenträger sich an den Rändern seltsam unwirklich wellen. Steril und futuristisch sieht George Tsypins Bühne aus; die viel zu neue Einrichtung im Drugstore, dem Treffpunkt einer der beiden Jugendgangs, schafft genauso wenig Atmosphäre wie die paar Graffitis auf den Backsteinwänden des dreistöckigen, aber winzig klein wirkenden Häuschens, das auf Schienen vom See her hereingefahren wird. Hier spielen die intimeren Szenen in Anitas Schlafzimmer oder im Brautmoden-Geschäft.

Für die beiden Hauptrollen von Tony und Anita gibt es jeweils drei Darsteller, auch die restliche Besetzung besteht aus jungen, fast durchgängig deutschsprachigen Musicaldarstellern und einem erlesenen internationalen Tanzensemble. Die in deutschen Hoch- und Musicalschulen ausgebildete Generation an spezialisierten Musicalfachleuten setzt schon seit zwei, drei Jahren ganz neue Maßstäbe im deutschen Musical, was von den Feuilletons aber komischerweise nur bei solchen opernhaften und deshalb „anspruchsvollen“ Musicalklassikern zur Kenntnis genommen wird, nicht aber in den kommerziellen Musicaltheatern.

Die Inszenierung der Opernregisseurin Francesca Zambello folgt den ursprünglichen Regieanweisungen ziemlich treu, verlegt die Handlung aber aus den fünfziger Jahren in genau die chromglänzende, glattpolierte Manhattan-Gegenwart, die das Bühnenbild vorgibt. Und da liegt das Problem - wenn man die „West Side Story“ aktualisieren will, dann muss man den beiden rivalisierenden Jugendgangs eine glaubhafte heutige Identität geben, und das gelingt hier nicht. Kostümbildnerin Marie Jeanne Lecca steckt die jeweils über dreißig Köpfe zählenden Jets in blaue und die puertoricanischen Sharks in rote Farben, hat aber so gar keine Peilung, was die heutige Jugend trägt. Die Kostüme der Jets sind eine krude, irreale Mischung aus prolligen Trainingsanzügen, Punk, HipHop, Streetwear und - völlig absurd - Rock'n'Roll-Ausstattung mit weißen Söckchen und wippenden Petticoats. Riff, der Anführer, erinnert mit seinen Gehröcken, mit besticktem weißem Hemd und Lederbändchen um den Hals fatal an liedermachende Möchtegern-Intellektuelle.

Die hauptsächlich athletische, ansonsten einfach belanglose Choreografie aber greift weder Punk noch HipHop auf - keine einzige Bewegung sieht aus, als würde sie von der Straße kommen. Der Basler Ballettchef Richard Wherlock lässt das große Ensemble die allermeiste Zeit parallel nebeneinander tanzen (was dann eher wie „Fame“ aussieht), verordnet ihnen weit ausholende Gesten mit den Armen, als hätte er statt an den Inhalt der Songs ständig nur an das riesige Auditorium von 7000 Zuschauern gedacht. Wenn er Ensembles oder Formationen bildet, dann bewegt er meist nur zwei Gruppen gegeneinander, stets parallel zur Rampe. Natürlich zitieren die Mädchen in „America“ lateinamerikanische Tanzelemente, aber der Choreografie fehlt neben Feuer und Eleganz auch die lässige Ironie, das spontane Entstehen aus der Situation. Zum Duett „Somewhere“ tanzen Doubles von Tony und Maria einen Pas de deux, der irgendwo vage zwischen Ballett und Jazz Dance liegt und dessen emotionalen Höhepunkt eine spektakuläre, demonstrative Über-Kopf-Hebung markiert - als wäre man in „Schwanensee“.

Wie die meisten klassischen Choreografen in Europa hat Wherlock einfach nicht die Begabung für Showtanz, dieses coole, echte Jazz-Feeling à la Jerome Robbins oder Bob Fosse (positive Ausnahmen sind John Neumeier oder auch Youri Vamos mit seiner Düsseldorfer „West Side Story“). Viel trauriger aber ist der Eindruck des Dekorativen, der auch die gesamte Produktion durchzieht. Wherlocks Arbeit sieht aus, als hätte er niemals vorgehabt, in seinen Tanzschritten die Unzufriedenheit und das wütende Aufbegehren der Jugendlichen nachzuempfinden, sondern wäre immer nur auf eine effektvolle Musicalchoreografie aus gewesen. Und selbst das erfolglos.

Mehr Infos unter www.bregenzerfestspiele.com.

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