Jo Fabian/Department. „The Dark Side of Time“ zum Auftakt der Tanzwerkstatt Europa in der Muffathalle

München, 26/07/2001

Seine Schwester habe ihm, so der Sprecher aus dem Off, einmal den tiefen Satz gesagt: „Vergiss es, Liebster!“ Doch dann war sie es, die vergessen hat, nicht er. Er springt im „Sumpf der Erinnerung“ elfengleich herum und erzählt Geschichten: von einem geköpften Mann, der auf eine blinde Giraffe gebunden wird, von Sir Francis Drake. Von Liebe, Betrug und Verrat. Es sind Geschichten aus der Vergangenheit, über die, wie man so sagt, die Zeit hinweggegangen ist. Jo Fabian, Regisseur und Choreograf aus Berlin, stellt sie still.

Mit „The Dark Side of Time“ – geschaffen für den Deutschen Produzentenpreis für Choreografie 2001 – begann die Tanzwerkstatt Europa in der Muffathalle. Auf schwarzer Mauer sitzt im harten Anschnitt ein Kopfloser mit langer Stange. Ein großes Sichtfenster in der Mauer gibt den Blick frei auf Wasser und Robben, ein kleines auf eine Tür mit einer Katze davor. Ein roter Turm entlässt drei Tänzerinnen in weißen Kleidern, die Wilis gleich ihre Kreise durch den hellen Sand ziehen. Am Ende des recht kunstgewerblichen ersten Bildes hämmern ihre Füße Flamencorhythmen.

Zweites Bild: eine Wucht in Rot und Schwarz. Drei Damen mit Miniatur-Armada auf dem Kopf haben die Vorderlader im Anschlag. Auf dem Video ein Stierkampf im Still. An festlich gedeckter Tafel zwei Herren mit Flügelchen auf dem Rücken, sich zuprostend. Es passiert wenig, aber das Wenige ist spannend – begleitet von ohrenbetäubendem Schlachtenlärm.

Drittes Bild: Eine große Giraffe äugt in den Raum. Wo vorher Meeresboden war, wellt sich nun die Wüste. Die Damen tragen Teller auf dem Kopf, die Herren rote Rosen in den Händen. Der eine zieht einen Luftballon, der andere ein Spielzeugpferd hinter sich her. Die Damen singen mit Männerstimmen fünf Songs von Jo Fabian über Liebe und Leid, Lust und Tod. Sie begegnen sich, noch nicht wissend, wie.

„Geschichten, die man versteht, sind nur schlecht erzählt“, sagt die Stimme aus dem Off. Jo Fabian erzählt gut, der Tanz nie Eindeutiges. Auch wenn man ihn, wie Fabian es tut, in seinem „Alphasystem“ (jeder Buchstabe entspricht einer Bewegungskombination) gliedern kann. Er hat es auf die Gesten ausgedehnt und geschafft, seine repetitiven Muster zu Sogwirkung auslösenden und höchst individuell wirkenden Bewegungszeichen zu verflüssigen (zu Musik von Andy Cowton und Godflesh).

Ein Zug braust im Sichtfenster vorbei. Die Sonne geht unter. Die Giraffe ist weitergezogen. Im kleinen Fenster tanzt unermüdlich ein Mann. Und wir wissen: Das Stück musste so lange dauern, wie es dauerte. Und verstehen wieder, Leben besteht im Wesentlichen daraus, dass die Zeit vergeht.

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