Stiche ins Fleisch

Das Thema Inzest als Tanztheater: Nina Kurzejas „Tätowierung“ im Theaterhaus

Stuttgart, 24/11/2010

Nicht als Analyse oder Aufarbeitung, sondern als nüchterne Dokumentation in harten, wuchtigen Sätzen schildert die vielfach ausgezeichnete Dramatikerin Dea Loher in „Tätowierung“ den Missbrauch einer Tochter durch ihren Vater. Die Stuttgarter Choreografin Nina Kurzeja hat das Drama jetzt in ein bestürzendes Tanz- und Körpertheater umgesetzt, dem man im Glashaus, dem allerkleinsten Aufführungsraum im Theaterhaus, praktisch distanzlos ausgesetzt ist – der fast hündischen Abhängigkeit der Tochter von ihrem kalten Peiniger, seinen so plausibel klingenden Rechtfertigungen des Inzests, dem absurden Neid der anderen Tochter auf die Schwester, deren Unfähigkeit, eine normale Beziehung zu einem Jungen ihres Alters aufzubauen, schließlich ihrem Ausbruch in rohe Gewalt. Ein Steg ragt zwischen den Stuhlreihen in die Mitte des Raumes, darauf steht ein breiter Tisch als Symbol für das Zuhause, vor dem Anita fliehen möchte und in das sie doch immer wieder suchend, sich anschmiegend zurückkehrt. Die untätige Mutter hängt nur noch als Bild an der Wand, Zuflucht finden die Figuren in den Ecken an den Backsteinwänden. Anita buhlt um die Zuneigung ihres kalten Vaters, kuschelt sich an den ungerührt Sitzenden oder pustet das Mehl weg, wenn er aus seinem Bäckerteig zwei Brüste knetet. Ihre Loslösung von ihm scheint zunächst zu gelingen, als sie einen jungen und scheinbar sensiblen Floristen kennen lernt, aber die „Tätowierung“, die unzähligen Stiche ihres Vaters in ihr Fleisch lassen sich nicht vergessen.

Wie schon früher verlangt Kurzeja ihren Darstellern sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten ab. Als Regisseurin ist sie eine Meisterin der kleinsten Anspielungen – die Assoziationen zum Märchen von Rotkäppchen etwa, oder die höchst zynische Musikauswahl aus Disco-Hits der 80er, die den Vater als „Daddy Cool“ vorführt und so böse treffende Textzeilen wie „He Reiter immer weiter“ bringt. Stark verfremdet klingt auch „Guten Abend, gut‘ Nacht“ herein. Das einzige Manko sind die eingespielten deutschen Zitate aus Lohers Dialogen, die völlig brav und neutral aufgesagt werden – weit besser machen das die Tänzer, die ihren wenigen Text zwar auf Englisch sprechen, aber so viel hasserfüllter, verzweifelter, verlorener. Vor allem die junge Kira Senkpiel, eine sehr große und fast wuchtige Tänzerin, die doch so mädchenhaft und verletzlich wirkt, hält durch ihre Intensität den Abend wie in einer eisernen Faust. Harmlos und unauffällig wie der nette Nachbar wirkt Scott Roller als Vater, ruhig thront er am Küchentisch und übt seine hinterhältige Macht aus. Der Darsteller ist eigentlich Cellist und es wirkt vielleicht etwas merkwürdig, wenn der grobe, bauernschlaue Vater plötzlich am Rand der Szene dieses elegische Instrument ergreift. Lyrisch zart bleibt Cedric Huss als junger Freund, bis auch er schließlich Anita mit Wolfsmaske erscheint, wie der Vater. Es ist schmerzhaft, so dicht an dieses fatale, ausweglose Geschehen gerückt zu werden, beängstigend gar, wenn am Schluss ein Gewehr ins Spiel kommt. Aber so zwingt uns Nina Kurzeja das einzige zu tun, was hilft: hinschauen, nicht wegschauen.

www.theaterhaus.com / www.ninakurzeja.de

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