2. St. Petersburger Ballett-Spezifika

Mariinsky-Festival 2003

München, 26/07/2003

Als das Kirov-Ballett im Jahr 1988 vor 3000 Zuschauern sein Gastspiel im Londoner Business-Design-Centre gab, wurde es als absolutes Top-Ereignis gefeiert, dass das weltberühmte Ensemble erstmals nach 18 Jahren England mit seinem Besuch beehrte. Als dramatisches Zeichen für den Stimmungswechsel in der russischen Kulturpolitik galt damals, dass Natalia Makarowa – auch dies erstmals nach 18 Jahren, die sie im Westen verbracht hatte –, wieder an einer Ballettklasse der Kompanie teilnahm, aus der sie hervorgegangen war, sich entschied, in einer Gala den Weißen Schwan auf das Adagio im 2. Akt des „Schwanensee“ zu tanzen, und das an der Seite des großartigen Konstantin Zaklinsky auch durfte!

Angesichts dieser Heimkehr einer der größten Ballerinen des Jahrhunderts hieß es: „The age of glasnost is truly upon us.“ Damals trat das Kirov-Ballett auch im Münchner Nationaltheater auf. Zehn Jahre später war es ein Stück Normalität, diese Kompanie im Westen erleben zu können, wie u. a. beim dreiwöchigen Grazer Gastspiel im Sommer 1998, beim zweiten Gastspiel in München während der Ballettwoche 1999 und dem in diesen Tagen stattfindenden zweiten Gastspiel in Graz, der Europäischen Kulturhauptstadt 2003.

Was ist das Besondere, das man vom St. Petersburger Ballett erwarten darf? Sicher ist es das gesamte Corps de ballet mit seiner unvergleichlichen Homogenität, sicher auch der verblüffende Reichtum an Talenten, aus denen immer neue erstklassige Solisten hervorgehen. In Graz treten auch die vier Ausnahme-Tänzer auf, die in eindrucksvoller Weise die Kontinuität im Hervorbringen von Stars repräsentieren: Faruch Ruzimatow, dessen aktive Tänzerlaufbahn sich dem Ende zuneigt, Igor Zelensky, der internationale Top-Star der Gegenwart, Andrian Fadejew, der m. E. ebenbürtige Kronprinz Zelenskys, und der junge Leonid Sarafanow, der erst in dieser Saison seinen Durchbruch hatte. Bei den Damen kompensieren Schanna Ajupowa, Diana Vishneva, Swetlana Sacharowa und Daria Pawlenko mühelos das Ausbleiben selbst einer Uljana Lopatkina, die erst am 30. Mai bei der weltweit übertragenen Gala vor all den Staatsoberhäuptern im Mariinsky-Theater ihr umjubeltes Comeback feierte.

Zum St. Petersburger Stil, dessen Reinheit so gerühmt wird, erklärte Makarowa: „Sich in jedem Moment der Existenz des ganzen Körpers bewusst zu sein und ihn in diesem Sinn auf eine klassische Weise als harmonische Einheit zu nutzen, das macht seine Ästhetik aus. Bei uns wird selbst die einfache Bewegung, wenn man nur Pliés übt, durch die Bewegung des Kopfes und der Arme natürlich begleitet, so dass immer alles arbeitet, alles atmet. Im Westen bekam ich manchmal zu hören: Zieh den Bauch ein! Die Korrektur russischer Lehrer wäre: Halte den Rücken! Halte den Ellbogen! Denn, wie Sie wissen, fällt der ganze Körper in sich zusammen, wenn man den Ellbogen sinken lässt. Russische Studenten sind gehalten, sich stets des schönen inneren Kreises bewusst zu sein, auf dem der Arm imaginär aufliegt, und ihn in dieser Position zu halten. Wenn man diese Armhaltung auflöst, können die Arme so gut sprechen wie die Beine. Und: Russen sind sich des Raumes bewusst und nutzen ihn freier. Ich meine nicht, dass sie höher springen. Sie tanzen einfach raumgreifender.“

Bei meinen Gesprächen mit Tänzern in München wies Elena Pankova, die 1988 noch als aufsteigender Stern des Kirov-Balletts neben der großen Makarowa in der Londoner Gala tanzte, die Sorge, dass dessen klassische Traditionalität staubig wirken könnte, zurück: „Ein gutes Ballett ist wie ein großes Haus mit vielen Zimmern, die von wechselnden Bewohnern eingerichtet werden. Sie haben diese Freiheit, und die Interpretation entwickelt sich weiter, aber es bleibt immer noch das Haus.“ Auch ihre Charakterisierung des Stils ist hörenswert: „Wenn man diesen Tanz mit einer Porzellantasse vergleicht, ist es eine weiße - ohne Goldrand, Schnörkel oder Blumen.“

Und Alen Bottaini, der als 16-Jähriger wegen dieses Stils für zwei Jahre ins damalige Leningrad gezogen ist: „Ich hatte Videos gesehen und wollte unbedingt zu Gennadij Seljutsky, dem Lehrer von Ruzimatow, bei dem auch Kirill Melnikow studiert hat. Als ich alle Prüfungen bestanden hatte und endlich dort war, gab es viele Probleme. Wenn ich Hunger hatte und in den Laden kam, hatten sie das Brot meistens schon verkauft. Es war sehr kalt, oft minus 30 Grad. Aber wenn ich in die Schule ging (das heißt die Waganowa-Akademie), fühlte ich: Ballett ist wunderbar. Ich blieb den ganzen Tag in diesen Räumen und übte. Die besten Tänzer der Welt waren da und haben in diesen Räumen gearbeitet. Das merkst du, das liegt da in der Luft...“

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