„Aeon“ von Luca-Andrea Tessarini

Der Berg ruft

Uraufführungen von Robert Robinson und Luca-Andrea Tessarini zum Auftakt der Tanzsaison des Origen Sommerfestivals

Zwei Werke hinterlassen intensive Eindrücke mit ihrem Blick auf das Thema Zeit

Riom, 16/07/2023

An einem Tag präsentiert das Origen Festival Cultural die ersten zwei der insgesamt neun Tanz-Uraufführungen dieses Sommers, dessen Programm unter dem Motto „Zeit“ steht. Zwischen den Premieren von Robert Robinson und Luca-Andrea Tessarini liegen wenige Stunden und zwischen ihren Aufführungsorten in der Burg Riom und im Julierturm ein Höhenunterschied von 1000 Metern.

„The Artist’s Way“ in der Burg von Riom ist das erste längere Werk des Briten Robert Robinson. Nachdem Intendant Giovanni Netzer schon vor Jahren von einigen kurzen Tanzvideos von Robinson im Internet sehr angetan war, lud er ihn nach einem ersten Treffen ein, ein einstündiges Werk für Origen zu kreieren. In diesem Jahr hat sich Robinson, der momentan beim Staatsballett Hannover als Tänzer engagiert ist, nun dieser Herausforderung gestellt. Mit überzeugendem Ergebnis.

Das Publikum sitzt – geborgen von den steinernen Wänden und dem hölzernen Dachgewölbe der Burg – im Quadrat um die intime Bühnenfläche und erlebt die fünf großartigen Tänzer*innen des Staatsballetts Hannovers (Marta Cerioli, Giada Zanotti, Conal Francis-Martin, Giovanni D’Agati und Jamal Uhlmann) ganz unmittelbar. Ein starkes Auftaktbild gibt es schon vor Beginn, denn bereits beim Einlass ist Giovanni D’Agati auf der Bühne, scheint wie eine willenlose Puppe an einem weißen Luftballon zu hängen, der ihn gerade so hält. Mit einer Sicherheitsnadel, die den Ballon an seiner Hose befestigt, zersticht er ihn schließlich. Ein Sinnbild für den augenöffnenden Moment, den Robinson als „ the moment when the bubble pops“ bezeichnet? Vielleicht liegt es nahe, sich gerade in einem Erstlingswerk von einem Schlüsselmoment in der eigenen Biografie inspirieren zu lassen. Robert Robinson traf vor fünf Jahren die Entscheidung, eine Solistenposition und somit einen durchgetakteten und fremdgesteuerten Alltag zu verlassen. Eine lange, erkenntnisreiche Reise in verschiedene Länder veränderte seinen Blick auf die Zeit und auf die Sinnhaftigkeit seines Tuns und hat ihn nachhaltig geprägt.

Das Verweben eigener biografischer Elemente in eine Choreografie über Zeit und Vergänglichkeit könnte durchaus Kitschpotenzial bergen. Doch Robinsons Umsetzung geht dem konsequent und geschickt aus dem Weg. Auch Ed Shaw gelingt dasselbe mit einem vielfältigen Sounddesign aus Instrumentalmusik und Songs, bei dem selbst Vogelgezwitscher oder Meeresrauschen nicht deplatziert wirken. Zwar erzählt Robert Robinson seine eigene Geschichte, aber so unaufdringlich, dass sie dem Publikum viele Identifikationsmöglichkeiten bietet.

Ganz eindrücklich die Szene, in dem sich die fünf Tänzer*innen wie maschinell bewegen; das Getriebensein bis hin zum fast Zermalmtwerden von dem immer drängenderen Ticken einer Uhr spürt auch das Publikum fast körperlich. Umso befreiender die vielen Momente, in denen das Korsett der Zeit vergessen ist, sich neue Wege öffnen, und neue Begegnungen ermöglichen; alles mit einer großen Bewegungsvielfalt und Sensibilität umgesetzt. Ein sehr vielversprechender Start, honoriert mit stehenden Ovationen, dem Robert Robinson hoffentlich weitere Werke folgen lässt.

Wenn man Kairos beim Schopfe packt und zu einem Festival reist, ist Chronos nicht zwangsläufig mit im Bunde. Daher sei an dieser Stelle über die Generalprobe von Luca-Andrea Tessarinis „Aeon“ vom Vorabend berichtet. Die eigentliche Premiere im Julierturm, dreieinhalb Stunden nach Ende von Robert Robinsons Stück, dürfte ihr in Kraft und Eindrücklichkeit in nichts nachgestanden haben.

Der Schweizer Luca-Andrea Tessarini, Tänzer beim Nederlands Dans Theater, ist schon zum fünften Mal Gast beim Origen Festival Cultural und bezeichnet sein jüngstes Stück als eine Hommage an den Julierturm. Diese einzigartige temporäre Spielstätte muss nach Ende des diesjährigen Sommerfestivals abgebaut werden. Tessarini beschäftigt der Schmerz, diesen roten Holzbau, der über die Jahre ihn und viele andere inspiriert hat, gehen lassen zu müssen. Aber auch die Überlegung, wie die Natur sich danach den Platz wieder zurückholen wird, den der Mensch einige Zeit von ihr geliehen hat, prägt sein neues Werk, in dem er auch selbst mittanzt.

Zu Beginn des Stücks wird die runde Spielfläche inmitten der Zuschauerränge langsam nach oben gezogen, man hört zunächst nur polternde Geräusche bis die Bühne ins Blickfeld kommt. Am Rand der Fläche fünf Steinhaufen, in der Mitte Tessarini, der mit Felsstücken versucht, einen kleinen Turm zu bauen. Vergeblich, immer wieder fällt er haltlos in sich zusammen, wird kein Wegweiser mehr werden. Die anderen fünf fabelhaften Tänzer*innen (allesamt vom NDT: Chloé Albaret, Allison McGuire, Nicole Ward, Paolo Busti und Samuel van der Veer), treten auf den Zuschauerrang, dessen Türen mit Kreidegekritzel versehen sind. Eifrig ergänzen sie es, bevor sie auf das Bühnenrund steigen. Zu einem aus vielen Elementen verwobenen Sounddesign (Radostin Bekirski) entfaltet sich Tessarinis Stück mit einer ungeheuer kraftvollen, bodennahen Bewegungssprache. Wie ein Bildhauer lässt er sich und die anderen Tänzer*innen immer wieder neu zu faszinierenden, skulptural anmutenden Körpergebilden zusammenfinden. Aus der Gruppe, die entweder eng zusammenbleibt oder sich an den einzelnen Steinhaufen am Rand platziert, lösen sich hier und da Einzelne oder auch ein Paar. In seinem steten, poetischen Fluss von Formierungen, Loslassen, und Neufinden lässt der Tanz hier Vergehen und Wandel aufscheinen.

Am Ende ordnen die Tänzer*innen die Felssteine ein einem Rund an; es schließt sich langsam ein Kreis. In ihm verbleibt einsam ein Tänzer, Tessarini, als wolle er eins werden mit dem Ort. Die anderen fünf gehen, wie sie gekommen sind, hinterlassen Worte und Kritzeleien an den Türen – wie ein letztes „Ich war hier“.

Die gitterartige, mit Moosflecken überzogene Turmstruktur, die als einziges Bühnenbildelement über dem Bühnenrund hängt, deutet an, was kommen wird: Wenn der rote Holzbau verschwunden ist, wird Moos das Terrain für sich zurückerobern. Aber der Turm wird oben auf dem Pass vor dem inneren Auge all derer sichtbar bleiben, die ihn erlebt haben.

Noch ist es möglich, diesen Ort zu besuchen, an dem Kunst und Natur eine magische Symbiose eingehen; bis Mitte August sind dort drei weitere Tanz-Uraufführungen zu sehen. Und tröstlich ist, dass auch ohne den Julierturm das Origen Festival Cultural seine visionär-schöpferische Reise im Fluss unserer Zeit fortsetzen wird.

 

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